Wasserlilien in Bombentrichtern

Fernab der überfüllten Strandpromenade zeigt die Insel Usedom ein anderes Gesicht: Bewachsene Bunkeranlagen, Seeadler auf der Sandbank und die Orgel von Liepe. Safari in ein bizarres Naturparadies mit Jeep, Picknick und der Lizenz zum Staunen

von HANNE BAHRA

„Bleiben Sie auf Usedom, hier wird der letzte Heide fromm.“ Lautstark streut Clown Lolo auf der Ahlbecker Strandpromenade kesse Sprüche unter das Volk. Einst war er ein prominenter DDR- Artist. Nun wirft er die Bälle verbal. Keine zwei Sätze ohne Reim. Usedom ist für ihn die schönste aller Inseln, ein Naturpark mit allen Vorzügen der deutschen Ostseeküste, nichts fehle, nun ja, vielleicht ein paar Kreidefelsen. Anders gesagt: „Unser Sand ist so pur, geht in jede Eieruhr.“

Im diffusen Mittagsommerlicht, dass mehr der weichen, fast schattenlosen heißen Stille des Südens gleicht, als man es hier im Norden je erwartet hätte, flanieren Feriengäste aus Ost und West. Mit heißen Würstchen und Gummifrosch auf die Seebrücken und zurück. Das Gedränge auf der zehn Kilometer langen Promenade zwischen Ahlbeck und Heringsdorf ist anstrengend. „Gestern waren zwei Leute in Heringsdorf, die ich noch niemals am Kurfürstendamm gesehen habe“, witzelte einst Paul Simmel.

Dem Versprechen erlegen, eine menschenleere, nahezu unbekannte Insel erleben zu können, steige ich eines Morgens in den Landrover eines einheimischen ehemaligen Buchhändlers. Mit Bravour nehmen die Räder des Defenders die sandige Piste. Die Kühe gucken komisch, hier fährt sonst nur der Bauer. In Begleitung von Uwe Fiedler aber dürfen auch Fremde durch Wälder, über Wiesen und Felder, wo sonst nur noch Hase und Fuchs anzutreffen sind.

Der Weg zum Nordzipfel der Insel führt durch Peenemünde. Gestrüpp kriecht aus dem Skelett des Sauerstoffwerkes der ehemaligen Heeresversuchsanstalt, stumpf blicken die leergezogenen Häuser der Volksmarine. Was um Himmels willen will ich hier? Dann ein goldgefiederter Fasan auf Beton. Gelassen zupft der Vogel Grashalme vom Parkplatz vor dem musealen Kohlekraftwerk. Eine Metapher wie auf Bestellung für eine Landschaft, die zu neuem Leben erwacht.

Uwe öffnet das rostige Tor zu einem bizarren Naturparadies. Wasserlilien blühen in Bombentrichtern. Ein alter Hochbunker verwittert felsenhaft zur Tropfsteinhöhle. Ringsum blühen Iris und Sumpfdotterblumen. Archaisches Gurren und Kollern aus den Kehlen tausender Kormorane, die in den Zweigen der kotbekleckerten Bäume am dunklen Sumpfsee wie japanische Holzschnittbilder gegen den Himmel stehen. Ein pommersches Vogelparadies, einst Entenjagdplatz der Familie des Raketenbauers Werner von Braun. Im Jahr 1925 wurde der Peenemünder Haken Naturschutzgebiet, 1936 dann militärische Sperrzone.

Weiter mit dem Landrover zum äußersten Zipfel der Insel, schüttelt der holprige Weg das Staunen über die Seeadler auf der Sandbank vor den Strandwiesen lauthals aus uns heraus. Ein Teichhuhn flattert durch den Eichenwald Richtung Prüfstand 7. Von hier aus flog 1942 die erste V 2 ins All. Übrig blieb an dieser Stelle der Kühlwasserkanal, bemoost wie ein alter Parkbrunnen, in dem sich das Abendrot spiegelt.

Die Fahrt am nächsten Tag führt zum südlichen Ende der Inselwelt. Dickköpfig schiebt sich der Lieper Winkel zwischen Achterwasser und Peenestrom. Fotopause am Eingang zum Winkel unter der ausladenden Krone der über 700 Jahre alten Suckower Eiche. Außer uns kein Mensch weit und breit. Nur drei Ponys in der Farbe der sonnentrockenen Gräser. Schafe halten das Brachland kurz. Wild auf den Wiesen, wieder Seeadler im Visier. In acht kleinen Dörfern wohnen meist Alte, die Jungen ziehen weg. Touristen verirren sich kaum in diese Ecke.

Die Menschen hier leben mit dieser Abgeschiedenheit seit Jahrhunderten. Bevor Ende des vorletzten Jahrhunderts die Landstraße durch das Dickicht des Usedomer Forsts gelegt wurde, blieb nur der Wasserweg. Das machte autark, noch heute steigen die Männer des Winkels im Winter selbst in die breiten Schilfgürtel, um Rohr für ihre Dächer zu „werben“.

Bis in die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts hatte sich eigenes Brauchtum und der breite singende Klang ihrer Sprache erhalten. Vieles ging inzwischen verloren. Der typische Kantenrock in der Heimatstube ist eine Kopie. „Am liebsten hätten einige nach der Wende aus dieser Gegend einen Museumswinkel gemacht, auf jedem Hof eine Heidschnucke“, erzählt Gerd Schulze, der ehemalige Solofagottist des Leipziger Gewandhausorchesters, der seit dem Ruhestand wieder auf der Insel seiner Vorfahren lebt. Er greift in die Tasten der Orgel von Liepe, das älteste Kirchlein der Insel erbebt. Die Töne des 150 Jahre alten Instruments sind so authentisch wie die Wäsche im Tanzsaal von Gastwirt Schmidt in Krienke, das Gegacker der Hühner und der Tratsch übern Gartenzaun.

Wir würden gern bleiben und folgen doch dem Peenestrom bis nach Karnin. Im blauen Blechkahn „Fine“ schippern wir über den Fluss, vorbei am hochbeinigen Hubteil, Rest der alten Eisenbahnbrücke, über die einst Tausende Sommerfrischler von Berlin auf die Insel reisten. Am anderen Ufer verlorenes Land. Das alte Durchströmungsmoor zwischen Kamp, Rosenhagen und Bugewitz, vor etwa hundert Jahren durch Entwässerungsgräben als Weideland nutzbar gemacht, säuft langsam ab. Von den Landwirten nur unfreiwillig aufgegeben. Doch das Denaturierungsprogramm ist rentabler als nur mit Mühe erhaltene Landwirtschaftsflächen.

Schon steht der Anklamer Stadtforst im Wasser. Pommersche Everglades. Mit der Sturmflut von 1995 brachen die Wehre, das Wasser des Haffs drang ein. An nassen Tagen wird das Gehöft des Fährmanns Christof Reimann zur Insel. Seit dem letzten Hochwasser schlägt der Fußboden Wellen. Doch das stört den jungen Mann wenig. Mit dem Kaffeepott in der Hand rückt er ein Stück näher an den bullernden Holzofen. Außerdem verdient er mit Wasser sein Geld, nicht nur als Fährmann – in Berlin baut er Regenwassernutzungsanlagen. Im Sommer aber ist er Fährmann. Und glücklich, „die Callas auch noch um Mitternacht in voller Lautstärke hören zu dürfen“. An den Ostseestrand geht er übrigens fast nie, „da könnte ich ja gleich am Ku’damm bleiben“.

Die Insel-Safari, vier Touren abseits der Touristenrouten für maximal 8 Teilnehmer, wird gebucht über Tel. 0172-3166634 oder 038379-20125, Preis pro Person für eine Ganztagestour täglich ab 10 Uhr 97 €, Kinder bis 10 Jahre 10 €, bis 14 Jahre 25 €. Ferngläser und Picknick am Lagerfeuer inklusive. Dazugebucht werden können Mountainbikes, Rundflüge, Fallschirmsprünge, Segeltörns, Kajaktouren und Reitpferde.