Totale und Tableau

Nicht in der Montage, in der Schärfentiefe liegt die Essenz des Kinos: Noch bis Montag zeigt das Filmkunsthaus Babylon Filme des taiwanesischen Regisseurs Hou Hsiao-Hsien, darunter das frühe Coming-of-Age-Drama „Die Jungen von Feng-Kuie“

von TOBIAS NAGL

Ah-Ching und seine Freunde haben gerade die Highschool hinter sich gebracht: Sie spielen Billard, lungern am Strand herum und schauen den Mädchen hinterher. Wenn sie einen guten Tag haben, treiben sie postpubertäre Späße an einem Toilettenhäuschen, das so malerisch an der Strandpromenade gelegen ist wie in anderen Ländern die roten Telefonzellen.

Hou Hsiao-Hsiens „Die Jungen von Feng-Kuie“ (1983) wäre aber bei aller stilistischen Eigenwilligkeit kein Coming-of-Age-Drama, gäbe es nicht eine Welt jenseits der familiären Enge, die alles jugendliche Sehnen und Drängen als großes Versprechen in sich vereinte. Auch im taiwanesischen Provinzkaff, in dem Ah-Ching aufgewachsen ist, ist das die große, weite Stadt. Mit zwei Freunden macht er sich auf nach Koahsiung: Arbeit suchen sie, mehr noch das Abenteuer. Die jugendlichen Halunken mieten sich ein Apartment, Ah-Ching verliebt sich in die Freundin des Nachbarn, und die Stadt lockt mit ihren Versuchungen, hinter denen sich kaum mehr als leeres Vergnügen verbirgt.

Distanziert verfolgt Hou Hsiao-Hsien den Weg seiner Protagonisten. Verloren irren sie immer wieder durch den dichten Verkehr der Stadt. Auf einer Seitenstraße werden sie eines Tages von einem schmierigen Motorradfahrer angesprochen, der ihnen Tickets für ein illegales Pornokino in einem Hochhausrohbau verkauft. Oben angekommen, ist die Enttäuschung groß. Statt einer Leinwand finden sie unverputzte Wände; statt auf die angekündigten kinematografischen Sensationen blicken sie durch unverglaste Fenster auf die Skyline der Stadt.

Einen ähnlichen Realismus-Schock erlebt auch der Zuschauer der Filme Hou Hsiao-Hsiens. Als enigmatisch gelten sie und in paradoxer Weise als zugleich formbewusst wie radikal zurückgenommen. Hou Hsiao-Hsiens Kino ist eines der Verweigerung: Nacherzählbare Plots, Dramatik oder größere psychologische Ausbrüche gibt es bei ihm kaum; Schuss-Gegenschuss-Muster erst recht nicht. Wie Yasujiro Ozu erzählt Hou Hsiao-Hsien in unvermittelten Totalen und Tableaus: „Japanischer als die Japaner“ titulierte ihn deshalb einmal ein Kritiker. Abwegig ist das nicht; aber auch ein westlicher Ontologe des Kinobildes wie André Bazin hätte seine Freude an Hou gehabt: Nicht in der Montage, sondern in der Tiefenschärfe witterte der einst an der Schwelle zur filmischen Moderne die Essenz des Kinos.

Hou Hsiao-Hsiens Frühwerk verkörpert eine solche Cadrage-Philosophie wie aus dem Lehrbuch: Durch Türen, Gänge und ausgeklügelte Schatten filmt er seine Protagonisten; im Bild erst einmal positioniert, überlässt er seine Schauspieler ohne Proben sich selbst und damit der Wahrhaftigkeit ihres Handwerks. Dem französichen Regiekollegen Olivier Assayas („Irma Vep“), seit seiner Zeit als Cahiers du Cinéma-Redakteur Kenner des asiatischen Kinos, erklärt Hou Hsiao-Hsien in einer liebevollen Doku-Hommage die Urszene seiner Arbeitsweise: Als Kind sei er einst auf einem Baum vor dem Tempel des örtlichen Stadtgotts gesessen und habe dabei zum ersten Mal Raum und Zeit als fundamentale Wahrnehmungskategorien erfahren – neben einer existenziellen Einsamkeit.

Mit seiner elliptischen Absage an das Bewegungsbild Hollywoods ist Hou Hsiao-Hsien nicht nur einsam, sondern im Westen radikal unbekannt geblieben. Daran ändert wenig, dass er sich in den letzten Jahren mit Filmen wie „Good-bye South, Good Bye“ (1996) oder „Millennium Mambo“ (2001) zumindest vordergründig poppigeren Genre-Erzählweisen genähert hat. Trotz aller Metaphysik und Nostalgie angesichts einer vermeintlichen Schnelllebigkeit der Postmoderne ist Hou Hsiao-Hsiens Realismus nicht rein formalistisch. Sein politisches Thema ist immer auch die chinesische Diaspora aus taiwanesischer Perspektive. In „A Summer at Grandpa’s“ (1984) und „Dust in the Wind“ (1987) erzählt er im Anschluss an „Die Jungen von Feng-Kuie“ mit weiteren jugendlichen Protagonisten von den Auswirkungen der Industrialisierung und Arbeitsmigration auf die Landbevölkerung und deren Familienstrukturen. Auch in „A City of Sadness“ (1989, in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet), begegnen sich Geschichte und Familie zu einer Dekonstruktion des Tschiang-Kai-schek’schen Staatsgründungsmythos, kurz nachdem die politische Zensur aufgehoben worden ist. Unter der noch entstand „Die Jungen von Feng-Kuie“, Hou Hsiao-Hsien erstes ausgereiftes Werk, mit dem am kommenden Montag eine liebevoll zusammengestellte Hou-Reihe im Filmkunsthaus Babylon zu Ende geht.