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: Rudolf Borchardt über frühes Kinderleid in Berlin

Rebell wider die Turnübung

Berlin wuchert, unaufhaltsam. Hässliche Kropfbauten schießen aus dem Boden. Für ein Geschichtsgefühl fehlt die Zeit, alles dreht sich um den Geldstandpunkt: Die Stadt ist Beute. Schwere Depressionswolken ziehen auf, noch berauscht die Stadt sich aber an sich selbst, werden pompöse Feste gefeiert. Das ironische Jahrzehnt der Glücksspieler aber ist schon lange zu Ende.

Die Nerven der Bürger flattern im Berlin der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Nach dem Schwips der Gründungseuphorie und den steilen Aufbruchsposen folgt der Katzenjammer auf dem Fuß. Kaum einer hat das so schön beschrieben wie Rudolf Borchardt: „Man war in Lebensformen des Überganges eingetreten, in denen man sich nie zu Hause fühlte, nicht einen Augenblick froh wurde.“

Zum 125. Geburtstag von Borchardt (1877–1945) ist bei Suhrkamp sein „Leben von ihm selbst erzählt“ und eine Auswahl seiner Gedichte erschienen. Borchardt im Stammhaus von Brecht, Adorno, Habermas – das scheint ideologisch frivol. Ist Borchardt doch die Gegenfigur zu all dem, was man einmal Suhrkamp Culture nannte: Monarchist, Legitimist, ein Konservativer vom Scheitel bis zur Sohle.

Weit führt das politische Raster aber nicht. Adorno hat den sprachmächtigen Dichter bewundert („Sprache durchrauscht ihn wie ein Strom“) und auch die Auswahl seiner Gedichte besorgt (zuerst erschienen 1968). Vielleicht schließen sich so die Kreise, hat Borchardt doch sein Leben zu keinem anderen Zwecke aufgeschrieben, als „um einen Menschen im entschlossenen Widerstande gegen alles zu zeigen, was die Zeit, die Umstände ihm aufzuzwingen versuchten“. Wenn das keine Rebellen-Vita ist!

Was Borchardt in seinem „Leben“ erzählt, ist ein winziger Ausschnitt: seine Berliner Kindheit 1882–1887. Als Fünfjähriger kommt er mit seinen Eltern nach Berlin, sie bewohnen ein Stockwerk in einem „häßlichgrauen Riesengebäude“ am Rande des Tiergartens – „des seelenlosesten aller öffentlichen Gärten“. Einzige „Insel“ in der „kalten Berliner Wüste“ ist die Wohnung seiner Großmutter. Sie stammt aus einer „ferneren größeren Zeit“ – dem Königsberg der Befreiungskriege. Ganz zufällig ist Königsberg, die Stadt der Dichter und Denker (Kant, Hamann, Herder), auch Borchardts Geburtsstadt.

Keine Kindheitserinnerung kommt aus ohne den scholastischen Leidschatz. Die Erziehung ist „mechanisch“; an den Schulen wird „gedrillt“, Unterricht nach „Schablone“ gemacht. Der kleine Rudolf wird von einem Sergeanten an einem „in die offene Tür gefugten Reck“ zu Turnübungen animiert. Das Pflichtpensum „hudelt“ er herunter, um sich dann schnell wieder in seine Fantasiewelten zu flüchten.

Schon jung kämpft er an allen Fronten (Tucholsky hat später gespottet, dass er mit der Rüstung ins Bett gehe). In der modernen Verkehrswelt hat er sich nie heimisch gefühlt. Er war ein Kind des 19. Jahrhunderts: Ein massenallergischer, pathetischer Individualist.

Am Ende des autobiografischen Fragments steht eine wegweisende Episode. Die Eltern sind auf Sommerfrische, er muss noch zur Schule, darf erst später nachkommen. Das Haus hat er für sich alleine, ein „Studiosus“ vernachlässigt sträflich seine Aufsichtspflichten. Er streicht durch die verlassenen Räume, deren Betreten vorher strengstens untersagt war, staffiert sie neu aus mit den Helden seiner Romanzen und Sagen. Ein kurzer Sommer der Anarchie. Dem Vater treibt der verträumte Junge es zu bunt, er schickt ihn als Pensionszögling zu Herrn „Halbherr“ nach Moabit. Auf verlorenem Posten in der „Armenstadt“ gilt es nun auszuhalten bei „blauer Grütze“.

STEPHAN SCHLAK

„Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002, 167 Seiten, 12,80 €