Skandal um die Mails eines Toten

In Italien sorgen mehrere Schreiben des ermordeten Arbeitsrechtlers Biagi für politische Furore. Wurde zunächst ein renitenter Gewerkschaftschef attackiert, so rückt jetzt der Innenminister in das Zentrum der politischen Auseinandersetzung

aus Rom MICHAEL BRAUN

Mehrere jetzt aufgetauchte Schreiben des im März von den Roten Brigaden ermordeten Arbeitsrechtlers Marco Biagi provozieren heftige politische Auseinandersetzungen in Italien. Die im Zeitraum Juni–September 2001 geschriebenen Briefe und E-Mails wurden von anonymer Hand der in Bologna erscheinenden No-Global-Zeitschrift Zero in Condotta und der Tageszeitung La Repubblica zugespielt.

Gerichtet waren die Schreiben des Universitätsprofessors, der die Regierung in Fragen der Arbeitsmarktreform beriet, an den Arbeitsminister, an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, an Staatssekretäre und hohe Beamte, und sie drehen sich alle um ein Thema: Biagi äußerte wachsende Furcht, zum Opfer eines Terroranschlags zu werden, und beschwerte sich in bitteren Tönen darüber, dass ihm Zug um Zug an seinen verschiedenen Tätigkeitsorten Rom, Mailand, Modena und Bologna der Polizeischutz entzogen wurde.

Brisanz erhielten Biagis Zeilen aber nicht zuletzt deshalb, weil der Professor zugleich heftige Anschuldigungen gegen Sergio Cofferati erhob. Cofferati führt als Vorsitzender des größten italienischen Gewerkschaftsbundes CGIL die heftigen Proteste gegen die von der Regierung Berlusconi angeschobene Reform des Kündigungsschutzes an. Biagi äußerte in zwei E-Mails, Cofferati habe Drohungen gegen ihn lanciert, ja ihn „kriminalisiert“, und stellt so einen direkten Zusammenhang zu der terroristischen Bedrohung her, der er sich ausgesetzt sah.

Genau dies war auch die Sprachregelung, die die Regierung unmittelbar nach dem Mord am 19. März – und vor der Mega-Demonstration der CGIL vom 23. März – ausgegeben hatte: Gewerkschaftlicher Protest sei der Nährboden der Terroristen. Insofern überrascht der Zeitpunkt der Veröffentlichung von Biagis Schreiben nicht: Die Regierung Berlusconi steht kurz davor, mit den beiden anderen Gewerkschaftsbünden CISL und UIL eine Einigung zu erzielen; die CGIL wiederum reagiert mit einer neuen Streikwelle und hat für den September einen Generalstreik angekündigt.

Mehr als mysteriös ist aber, weshalb Biagi vor einem Jahr von Drohungen Cofferatis geschrieben haben soll. Damals hatte die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Gewerkschaften noch gar nicht eingesetzt, damals auch lag das von Biagi mitverfasste Weißbuch zur Arbeitsmarktreform – das tatsächlich von Cofferati heftige Kritik erfuhr – noch gar nicht vor. Eine der beiden Mails liegt denn auch den Justizbehörden in einer Version vor, in denen der Name Cofferatis gar nicht auftaucht, und in der anderen Mail sprach Biagi zwar von Drohungen, ergänzte aber, sie seien ihm von dritter, „absolut glaubwürdiger Seite“ zugetragen worden.

Deshalb drängt sich der Verdacht auf, dass entweder schon im Sommer letzten Jahres oder spätestens jetzt mit der Lancierung der Briefe Geheimdienstkreise am Werk waren und noch sind, die das in Italien seit Jahrzehnten bekannte Spiel spielen, den Terrorismus für die politische Auseinandersetzung zu instrumentalisieren oder gar selbst zu steuern. Drei Fragen werden die Ermittler zu klären haben: Von wem wurden die Schreiben an die Presse lanciert? Wurden die Briefe manipuliert? Und wer ist die „absolut glaubwürdige“ Person, die schon im Sommer 2001 den Konflikt des Herbstes gleichsam vorhersah – inklusive der angeblichen Cofferati-Drohungen gegen Biagi?

Zugleich aber ist Innenminister Claudio Scajola offenbar im Visier der unbekannten Fädenzieher: Sein Haus hatte Biagi den Schutz verweigert, und das spätere Mordopfer schrieb in düsterer Vorahnung, wenigstens solle die Nachwelt von seinen „erfolglosen Bitten um Schutz“ wissen. Scajola reagierte seinerseits auf die jetzt erfolgten Enthüllungen mit einer unglaublichen Entgleisung. Biagi sei „eine Nervensäge“ gewesen, dem es bloß „um eine Verlängerung seines Beratervertrags ging“, entfuhr es dem Minister. Nicht nur die Opposition, sondern auch diverse Politiker des Regierungslagers forderten daraufhin Scajolas Rücktritt. Noch am Sonntag bot der denn auch seine Demission an; Berlusconi jedoch sprach seinem Minister das Vertrauen aus. Doch jetzt rückt die Rolle des Innenministers ins Zentrum der Auseinandersetzung.