Todesbotschaften der Mudschaheddin

Die ehemalige Frauenministerin Sima Samar wird als „Rushdie Afghanistans“ bedroht und der Blasphemie bezichtigt

KABUL taz ■ Die ehemalige afghanische Frauenministerin hat eine neue Aufgabe: Sie wird Vorsitzende der unabhängigen Menschenrechtskommission. Die prominente Widersacherin der Fundamentalisten wurde während der Loja Dschirga, der Großen Ratsversammlung, massiv unter Druck gesetzt und erhielt sogar Todesdrohungen. Zu ihrer Nachfolgerin wurde Mahbubah Hoqooqmal, bisherige Vizevorsitzende der Organisationskommission für die Loja Dschirga.

Samar war unter anderem der Blasphemie bezichtigt worden. Ihre Lage hat sich nun leicht entspannt, nachdem der stellvertretende Oberste Richter des Landes am Montag erklärte, die Untersuchung in dem Fall sei eingestellt. Dabei handelt es sich aber nur um eine zeitweilige Aussetzung. „Wenn wir stärkere Beweise bekommen, werden wir den Fall wieder öffnen“, sagte Fazel Ahmad Manawi auf Anfragen. „Viele Leute“ hätten sich beschwert. Noch am Sonntag warf Manawis Chef, Abdul Hadi Schinwari, im offiziellen Rundfunk Samar „unverantwortliche“ und „gegen die islamische Nation Afghanistan gerichtete“ Äußerungen vor, die sich auf ein Interview mit einer persischsprachigen Zeitung in Kanada Anfang des Jahres beziehen. Er wollte sie damit für alle öffentlichen Ämter disqualifizieren. Pikant ist, dass Schinwari selbst verfassungswidrig sein Amt ausübt und während der Loja Dschirga von Interimsstaatschef Hamid Karsai darin bestätigt wurde. Laut Verfassung darf der Oberste Richter maximal 60 Jahre alt sein. Schinwari ist über 70.

Während der Loja Dschirga zirkulierte eine Ausgabe der Zeitung Payyam-e Mudschahed, in der ein Leserbriefschreiber sie mit dem angloindischen Schriftsteller Salman Rushdie verglich und eine „angemessene Bestrafung“ verlangte. Payyam-e Mudschahed (Die Botschaft der Mudschahedin) ist eine Publikation der Mudschaheddin-Organisation Dschamaat-i-Islami, die formell vom Expräsidenten Burhanuddin Rabbani geführt wird, aber auch das Sprachrohr der dominanten Fraktion Schura-je Nasar (Überwachungsrat) der alten und neuen Regierung ist. Sie kann damit als Zentralorgan der Mudschaheddin gelten.

Sima Samar, die Ende vergangenen Jahres in Kanada einen Menschenrechtspreis erhalten hatte, weist die Vorwürfe als Unterstellung zurück. Sie habe sich lediglich gegen bestimmte Interpretationen des Islam ausgesprochen: „Sie sagen, ich hätte den Islam beleidigt, aber das habe ich nicht getan. Der wirkliche Islam hat nichts mit solchen verrückten Dingen zu tun“, erklärte sie gegenüber der Washington Post. Dies hielt einen Loja-Dschirga-Abgeordneten, Mulla Baqi Turkestani, nicht davon ab, die Vorwürfe vom Rednerpult der Versammlung zu wiederholen, worauf er zur Ordnung gerufen wurde.

Die Fundamentalisten nutzen den Rückenwind, den ihnen die Loja Dschirga verschafft hat, zu einem Frontalangriff gegen Liberale und Demokraten. Samar ist eine ihrer wichtigsten Gegnerinnen. Nur einen Tag nach dem Ende der Notabelnversammlung am Mittwoch voriger Woche erhielt sie sogar Todesdrohungen. Sie sah sich gezwungen, vorübergehend bei Freunden und der UNO Unterschlupf zu suchen. In Kabul zirkulierten Gerüchte, sie sei ermordet worden. Am Montag tauchte sie jedoch wieder in ihrem Büro auf. Auch ihre kämpferische Haltung hatte sie wieder gefunden. „Noch bin ich nicht tot“, antwortete sie besorgt nachfragenden Journalisten und Diplomaten.

Neben Samar erhielten noch mindestens zwei weitere Mitglieder der unabhängigen Loja-Dschirga-Kommission Todesdrohungen. Einer von ihnen ist Sebghatullah Sandschar, ein demokratischer Aktivist, dessen Frau telefonische Drohungen erhielt: „Sagen Sie Ihrem Mann, wenn er sich weiter einmischt, werden wir ihm die Beine abschneiden.“ Das wird in Afghanistan als Morddrohung interpretiert. Ein anderer afghanischer Demokrat, der eine symbolische Abstimmung über eine alternative Kabinettsliste außerhalb des Loja-Dschirga-Zeltes initiiert hatte, berichtet: „Ein Mann rief an und sagte, wenn wir unsere alternative Kabinettsliste präsentieren, würde er mich in kleine Stücke schneiden und sie meiner Familie schicken.“

JAN HELLER