„Ich bin kein Zauberer“

Potsdams Bildungsminister Steffen Reiche verteidigt das schlechte Abschneiden Brandenburgs beim Pisa-Vergleich. Er will wieder ins Mittelfeld: „Nicht umsonst gelten wir als die Reformfreudigsten“

Interview CHRISTIAN FÜLLER

taz: Ihr Ministerpräsident Manfred Stolpe ist zurückgetreten. Das ist wegen der desaströsen Pisa-Ergebnisse Brandenburgs auch angebracht.

Steffen Reiche: Manfred Stolpe hat gezeigt, dass er in jeder Situation das Heft des Handelns in der Hand hat. In der Tat sind uns in Brandenburg bildungspolitische Fehler unterlaufen. Manfred Stolpe hat mich aber seit meinem Amtsantritt voll unterstützt, diese Fehler zu korrigieren.

Vielleicht wäre es besser, Sie träten zurück. Sie tragen die politische Verantwortung.

Ich bin im November 1999 als Minister und nicht als Zauberer eingestellt worden. Nur ein Zauberer hätte die Pisa-Ergebnisse der 15-Jährigen noch ändern können, die ein halbes Jahr nach meinem Amtsantritt getestet wurden. In der Schulpolitik braucht man ein Konzept – und einen langen Atem.

Brandenburg liegt innerhalb Deutschlands bei Pisa fast überall hinten. International sind Sie nur knapp vor Schlusslichtern wie Mexiko oder Luxemburg. Was sagt eigentlich der Vater dreier schulpflichtiger Kinder dazu?

Ich bin enttäuscht, aber nicht entmutigt. Ich nehme das als Herausforderung an, Brandenburg bis zum Pisa-Test im Jahr 2006 ins Mittelfeld zu führen. Nicht umsonst gilt Brandenburg inzwischen als eines der reformfreudigsten Länder.

Wie erklären Sie sich dann dieses Fiasko?

Wir haben eine sehr schlechte sozioökonomische Struktur. Brandenburg weist nur 65 Prozent des Bruttosozialprodukts der Westländer auf. Die strukturelle Arbeitslosigkeit ist bei uns höher als bei den ostdeutschen Ländern, die vor uns liegen. Das ist anerkanntermaßen ein Grund für schlechtere schulische Ergebnisse.

Was waren die bildungspolitischen Fehler Brandenburgs, die Sie bemängeln?

Es wurde zu viel in zu kurzer Zeit verändert. Und es wurden dabei Dinge über Bord geworfen, die man hätte fortführen können …

etwa aus der DDR-Zeit?

Ja, zum Beispiel die integrative Schulform. Wir haben neben Mecklenburg-Vorpommern das einzige dreigliedrige Schulsystem im Osten. Die anderen Ostländer haben nur das Gymnasium neben einer weiterführenden Schulform – die im Prinzip die Polytechnische Oberschule ist, eine zehnjährige gemeinsame Schule.

Was fühlt ein Exbürgerrechtler, wenn er den Satz sagt: „Es war nicht alles schlecht in der DDR“?

Ich wollte als Bürgerrechtler etwas verändern und nicht alles loswerden. Es hat durchaus Gutes gegeben, das ist für mich überhaupt keine neue Erkenntnis. Die Bürgerrechte gelten heute in Brandenburg – aber eine leistungsfähige integrative Schule würde helfen, das Bürgerrecht auf Bildung zu festigen, genau wie die intensive Teilnahme am Bundeswettbewerb Politische Bildung oder die Drittelparitätische Mitbestimmung in der Schule die Bürgerrechte stärkt.

Viele sagen nun, das schlechte Abschneiden Brandenburgs beim Bildungstest hänge auch damit zusammen, dass die SPD hier zu lange regierte.

Eine lange SPD-Regierung ist ja kein Nachteil an sich. Allerdings muss man, wenn man etwas besser machen will, heute Partei- und Ländergrenzen überschreiten. Man muss auch bereit sein, gute Beispiele von anderswo zu übernehmen. Für mich heißt das, von Finnland und, wo es möglich ist, von Bayern zu lernen.

Ich bin mir nicht sicher, ob das Eltern und Schüler wirklich beruhigen kann. Was unternehmen Sie konkret gegen das miserable Testergebnis.

Konkret heißt für mich: Klare Bildungsstandards zu definieren und ein Kerncurriculum in den Lehrplan zu schreiben. Die Standards werden wir durch regelmäßige Vergleichsarbeiten überprüfen. Es wird auch – ähnlich wie beim Pisa-Spitzenreiter Finnland – zentrale Prüfungen in der zehnten und in der Abiturklasse geben.

Was versprechen Sie sich von den viel beschworenen Bildungsstandards?

Dass eindeutig definiert ist, was in der Schule gelernt werden soll. Und zwar im Sinne des so genannten Literacy-Konzeptes, das sich auf Kompetenzen bezieht. Wenn wir uns darauf verständigt haben, können wir über Ländergrenzen hinweg diagnostizieren, wo der einzelne Schüler und die einzelne Schule steht.

Das hört sich nicht gerade nach Blitzreform an.

Zu Beginn meiner Amtszeit lag die Wertschätzung der Brandenburger für Bildungspolitik noch ganz unten – genau wie in Berlin. Inzwischen sind wir zumindest bei diesem Wert schon auf Platz vier bundesweit.

Sie wollen das Kerncurriculum gemeinsam mit Berlin entwickeln. Müssten Sie nicht auf viel mehr Feldern mit dem Nachbarland kooperieren? Die Kleinstaaterei in der Schulpolitik ist doch gescheitert.

Pisa ist ein Tabubruch, weil zum ersten Mal in einem Kernbereich der Kulturhoheit der Länder ein nationaler Vergleich stattgefunden hat. In ein paar Jahren wird man sagen: Pisa war der föderale Erdrutsch. Unser Verfassungsauftrag heißt ja, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Pisa hat gezeigt, dass wir im Grunde in einer grundgesetzwidrigen Situation leben – weil es bei den Schulen keine vergleichbaren Lebensverhältnisse gibt. Ich hatte der Kultusministerkonferenz schon 2001 in Hamburg vorgeschlagen, bundesweite Bildungsstandards einzuführen – wozu man sich nun endlich entschlossen hat. Inzwischen habe ich Berlin und Mecklenborg-Vorpommern eingeladen, einen Schritt weiter zu gehen und beginnend mit der Grundschule gemeinsame Kerncurricula einzuführen. Wir werden auch für den vorschulischen Bereich gemeinsame Standards einführen, damit auch Kitas einen Bildungauftrag entwickeln können.

Sie haben zusammen mit der SPD-Fraktion die gute finnische Schule zu Ihrem Vorbild gemacht. Stehen Sie noch zu dieser Idee?

Es ist ein sehr gutes und ein mögliches Konzept. Die Zustimmung für ein lange gemeinsame Schule ist im Land gewachsen. Sie ist aber noch zu klein – d. h.von einer Umsetzung sind wir noch entfernt. Ich habe angefangen, die Grundsätze der Bildungspolitik nur im Konsens zu entwickeln. Das bedeutet, dass es mit mir keine Schulreformen gegen Eltern und Lehrer geben wird.

Nun gerät die sechsjährige Brandenburger Grundschule in die Kritik – die ein Schritt hin zum finnischen Modell sein könnte. Werden Sie diese Grundschule stärken?

Wir können die Grundschule nur dann als Zukunftsmodell entwickeln, wenn sie mehr fordert und fördert, wenn sie mehr leistet und mehr lobt. Ich will in Brandenburg zudem das Stundenvolumen bis zur sechsten Klasse erhöhen. Für mich heißt das auch, die Leistungsdifferenzierung in der fünften und sechsten Klasse zu betonen.

Aber die Leistungsdifferenzierung ist doch der erste Schritt, das gemeinsame Lernen in der Grundschule zurückzufahren.

Ich halte es für notwendig, Schülern mit unterschiedlichen Interessen und Lernerfolgen in kleinen Gruppen gerecht zu werden. In der fünften und sechsten Klasse zeigt sich dieser Wunsch schon ganz deutlich. Wir können von Finnland lernen, dass man Schüler partiell in kleinere Gruppen auseinander nimmt.

Aber die machen das innerhalb der Klasse – und nicht etwa in getrennten Zimmern.

Auch bei uns werden die Klassen ja nicht dauerhaft getrennt, sondern nur für einige Stunden nach Neigung und Begabung. Es wird eben keine bessere und schlechtere Klasse gebildet.

Was muss sofort geschehen? Ihr Zeithorizont von fünf oder sechs Jahren ist für Veränderungen etwas großzügig?

Die Eltern haben das Recht, dass sofort etwas geschieht. Hier steht der Staat in der Verantwortung. Deshalb habe ich vergangene Woche ein Handlungsprogramm auf den Tisch gelegt mit über 50 verschiedenen Maßnahmen – zum Beispiel eine bessere Elementarbildung. Die SPD in Brandenburg hat gestern einstimmig die Forderung an den Bund beschlossen, dass wir einen beitragsfreien Kindergarten bekommen. Das Ziel ist, ein Bildungspflichtjahr für Fünfjährige. Die nächste zehnte Klasse wird die erste sein, die Prüfungen mit zentralen Standards machen wird. Und schon der nächste Abitur-Jahrgang, der mit der elften Klasse beginnt, wird zu einem Zentralabitur geführt.

Ob das den Eltern reicht?

Wir werden die Eltern intensiver in die Schule einbeziehen – um bessere Ergebnise bei den nächsten Pisatests 2003 und 2006 zu erzielen. Das Elternhaus muss sich intensiver für die Ergebnisse der Schüler interessieren.