Große Ratlosigkeit im weißen Zelt

Afghanistans „Loja Dschirga“ wird immer konfuser, die Stimmung unter den Delegierten immer enttäuschter, das Misstrauen zwischen den Ethnien immer größer und eine Lösung immer unwahrscheinlicher. Übergangspräsident Karsai schweigt sich aus

aus Kabul SVEN HANSEN

An ihrem gestrigen siebten Tag hat die afghanische Große Ratsversammlung (Loja Dschirga) in Kabul einen Tiefpunkt erreicht. Am späten Vormittag lauschten in dem weißen Zelt auf dem Gelände des Polytechnikums nicht einmal mehr zehn Prozent der 1.600 Delegierten den Reden. Nachdem angekündigt worden war, dass der neue Übergangspräsident Hamid Karsai am Nachmittag den Delegierten seine Vorschläge für ein provisorisches Parlament und das Kabinett erläutern wollte, verließen immer mehr Delegierte das Zelt.

„Hier zu sitzen ist Zeitverschwendung“, sagt der Arzt Mohammad Sabir Naseri aus der südlichen Provinz Sabul. Die Redner aus allen Teilen des Landes würden die bekannten Probleme aufzählen. Doch bei den Lösungen komme man nicht voran. „Es sieht nach Ermüdungs- und Verzögerungstaktik aus“, meint der Paschtune. Erst am Nachmittag kehrte er in das Zelt zurück, um Karsais Rede beizuwohnen. Doch kaum hatte ein blinder Mullah die Sitzung mit Koranrezitaten eröffnet, wurde Karsais Rede ohne Angabe von Gründen auf den Abend verschoben. Gerüchten zufolge wollte Karsai ohnehin nicht zu seinem mit Spannung erwarteten Kabinett Stellung nehmen, sondern dies erst später dem Übergangsparlament vorlegen.

„Es ist wirklich frustrierend. Die Delegierten sollten wichtige Dinge klären. Dazu hätte Karsai früher kommen müssen und sein Kabinett präsentieren sollen – mit ethnischer Ausgewogenheit“, forderte der Paschtune Abdul Qader Khan aus Kandahar. Karsai hatte am Freitag die Bildung eines Übergangsparlaments vorgeschlagen. Das ist aber in dem Bonner Afghanistan-Abkommen nicht vorgesehen, auf dessen Grundlage diese Not-Loja-Dschirga stattfindet. Seitdem streiten die Delegierten.

Ein Vorschlag für ein 111-köpfiges Parlament sieht 2 Delegierte pro Provinz sowie 15 Frauen, 27 Technokraten und 5 Vertreter der Zivilgesellschaft vor. Nach einem anderen Vorschlag für 160 Abgeordnete sollen je 10 Loja-Dschirga-Delegierte einen Parlamentsabgeordneten entsenden. Der erste Vorschlag begünstigt bevölkerungsarme Provinzen, der zweite begünstigt nach Ansicht von Paschtunen die Tadschiken, die überproportional viele Sitze bei der Loja Dschirga innehätten.

Entscheidender als das Übergangsparlament, dessen Rechte noch völlig unklar sind, ist für viele Delegierte die Frage nach der Zusammensetzung der Regierung. „Alle mögen Herrn Karsai, aber es gibt viele Befürchtungen über sein Kabinett“, meint die Delegierte Fatima Gailani.

Paschtunen, Hasara, Usbeken und Turkmenen erhoffen sich ein ethnisch ausgewogeneres Kabinett als das bisherige, in dem die Tadschikenfraktion dominiert. Zwar trat der zu dieser Fraktion gehörende Innenminister Yunis Kanuni zu Beginn der Loja Dschirga zurück. Doch viele trauen dem nicht und fürchten, Kanuni könnte aufsteigen.

Diskussionsfortschritte verhinderte auch die willkürliche Sitzungsleitung von Ismail Qasemyar. Der vor einer Woche gewählte Sitzungspräsident kann sich weder durchsetzen noch faire Rednerlisten führen, Debatten strukturieren oder Redezeiten begrenzen. „Die Warlords haben hier die rhetorische Hoheit,“ meint Nadschib Yussufi aus Steinbach, der die in Deutschland lebenden Afghanen vertritt. „Ob sie auf der Rednerliste stehen oder nicht, die Warlords haben das Wort, wann sie wollen.“

Delegierte beklagen auch Einschüchterungen. So floh Abdul Nasim aus Kabul nach Morddrohungen vorübergehend in das UN-Büro auf dem Loja-Dschirga-Gelände. Zuvor hatte er die Diskriminierung von Frauen als „unislamisch“ bezeichnet.