Aus Not zu sich selbst

Für die SPD war die „neue Mitte“ nur eine inszenierte Koalition des Augenblicks. Doch: Ideas do matter. Der tatkräftige Sozialstaat ist so eine – durchaus moderne – Idee

Pragmatische Politik setzt voraus, dass sich ihre Protagonisten über ihre politischen Ziele klar sind

Vielleicht kriegt die SPD gerade noch rechtzeitig die Kurve. Gestern hatte Gerhard Schröder die vielleicht letzte große Gelegenheit, seiner Partei zu erklären, warum die Republik weiterhin sozialdemokratisch regiert werden müsse. Er hat sie ergriffen. Höchste Zeit dafür war es längst. In den nun ablaufenden vier Jahren haben die regierenden Sozialdemokraten lange das Kapital ihres großen Wahlsieges über die Ära Kohl ziemlich achtlos verschleudert. Dabei lag von Anfang an klar zutage, wie vorläufig und jederzeit widerrufbar dieser Triumph ausgefallen war.

Zumindest strategisch denkende Köpfe der SPD hätten wissen können, was ihnen offenbar erst die Umfragen der jüngsten Zeit vor Augen führen: Die Lage der Partei ist bitterernst. Inzwischen steht weit mehr auf dem Spiel für die Sozialdemokratie als die Fortsetzung einer rot-grünen Koalition. Für die SPD geht es im Herbst ums Ganze.

„Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist von Dauer“ – das ist einer jener Sätze von Willy Brandt, die man in der SPD gern zitiert, weil sie schön klingen und scheinbar zu nichts verpflichten. In Wirklichkeit kennzeichnet Brandts Sentenz die historische Lage der heutigen Sozialdemokratie messerscharf. Nirgendwo steht schließlich geschrieben, dass eine Partei, deren Wurzeln tief im 19. Jahrhundert liegen, auch noch im 21. Jahrhundert zum selbstverständlichen Inventar demokratischer Politik gehören wird. Viel wahrscheinlicher ist das Gegenteil. Hervorgegangen aus den Großkonflikten des Industriezeitalters, sind gerade sozialdemokratische Parteien existenziell darauf angewiesen, den Wandel der Voraussetzungen ihres Erfolgs genau im Blick zu behalten. Weil der Industrialismus mit seinen Einstellungen und Mentalitäten Geschichte ist, gilt das heute mehr denn je.

So gesehen hat die SPD der Ära Schröder die historische Chance ihres Wahlsieges nicht genutzt. Vor vier Jahren war es die punktuelle Bündelung völlig disparater Wählergruppen, die der SPD bei gleichzeitig maximaler Mobilisierung der eigenen Anhänger den Wahlsieg eintrug. Doch was der SPD hier unter der Losung der „neuen Mitte“ gelang, bedeutete zunächst nicht mehr als die symbolische Vergemeinschaftung für einen kurzen Wahltag. Eine belastbare gesellschaftliche Mehrheit besaßen die Sozialdemokraten nie. Gerade deshalb hätte dem Wahlsieg die beharrliche Bemühung folgen müssen, aus der suggestiv behaupteten „neuen Mitte“ mehr zu machen als eine inszenierte Koalition des Augenblicks.

Diese intellektuelle Anstrengung hat die „Generation Gerd“ nicht geleistet. Sie hat sie auch gar nicht leisten wollen. Dass sie die Suche nach einem zeitgemäßen sozialdemokratischen Leitbild für die „Ordnung der deutschen Gesellschaft“ (Paul Nolte) weniger betrieben oder organisiert haben, als sie es gekonnt hätten, ist ein schweres Versäumnis der regierenden Sozialdemokraten. Sie selbst werden das nicht so sehen, denn letztlich ist ihnen alles irgendwie Prinzipielle herzlich egal. Aus der peinlichen Wahrheit, dass sie in ihren wilden Jahren allesamt ziemlich wirre Ideen in den Köpfen hatten, haben die Frontleute der SPD den Kurzschluss gezogen, alle ideenpolitischen Anstrengungen am besten ganz zu unterlassen. Die wenigen uninspirierten Vorstöße auf dem „dritten Weg“ in die „zivile Bürgergesellschaft“ blieben Stückwerk und Dekor. Eigentlich hielt man das alles sowieso für überflüssig.

Das war ein Irrtum ums Ganze. Die Wahrheit lautet: Ideas do matter! Bill Clintons New Democrats hatten das früh begriffen, es war die Grundlage ihres Aufstiegs. Auch aus Tony Blairs third way wäre ohne ideenpolitisches Korsett nicht viel geworden – was immer man von der Sache selbst halten mag. Es ist paradox: Gerade pragmatische Politik setzt voraus, dass sich ihre Protagonisten über Bedingungen und Ziele ihres politischen Handelns gedankliche Klarheit verschaffen. Gerade pragmatische Politik benötigt den roten Faden, die Sinn, Zusammenhang und Kontinuität schaffende große Erzählung, um nicht sofort als rundum gescheitert zu gelten, wenn es irgendwann mal mit dem Wachstum hapert und Nürnberg schlechte Zahlen meldet. Wo Politik allein an ihren Ergebnissen von Tag zu Tag gemessen werden will, stehen ihre Vertreter sprachlos da, sobald die Dinge einmal nicht so gut laufen.

In genau diese Lage ist die SPD in den vergangenen Monaten geraten. Erst war es mit der Konjunktur nichts, und das ständige Sparen nervte die eigenen Leute mehr, als es irgendwelche Wechselwähler beeindruckte. Dann nahm sich der Gegenkandidat die Freiheit, den Part des reaktionären Finsterlings auszuschlagen, für den ihn die Großtaktiker von der „Kampa“ eingeplant hatten. Das Barometer fiel, die Hoffnung schwand, die Lieblingsplastikwörter „Konsolidierung“ und „Nachhaltigkeit“ blieben den sozialdemokratischen Anführern im Halse stecken. Fast sah es aus, als wäre alles schon vorbei.

Doch irgendetwas passiert seit ein paar Wochen. Ob aus Verzweiflung oder Einsicht: Die SPD zieht die Reißleine. Eine neue, mitreißende Vision von sozialer Demokratie im 21. Jahrhundert besitzt die Partei zwar noch immer nicht. Stattdessen sind die Sozialdemokraten dabei, ihre alte, zuletzt etwas eingerostete Sprache und Symbolik neu zu entdecken. Und die erweist sich, wie Gerhard Schröders Parteitagsrede demonstriert hat, als unerwartet brauchbar. Sie handelt nämlich von den existenziellen Hoffnungen und Ängsten der ganz normalen Bürger dieses Landes, von Gerechtigkeit und Lebenschancen für möglichst viele, von der Bewahrung eines starken Sozialstaates, vom Schutz der Menschen und ihrer sozialen Umwelt vor den Zumutungen eines wild gewordenen Marktes.

Die Generation Gerd hat versäumt, ein sozialdemokratisches Leitbild zu finden und zu propagieren

Für die SPD ist es spät geworden. Doch wenn die Partei mit Gerhard Schröder an der Spitze in den kommenden Monaten zu dieser Sprache zurückfindet, hat sie die Wahl noch nicht verloren. Natürlich, manche Leitartikler werden das als „Rückfall“ geißeln. Und tatsächlich hat die SPD vier Jahre lang kein modernes Leitbild solidarischer und gerechter Modernisierung zu prägen vermocht. Das heißt aber nicht, dass es in Deutschland genau dafür keine Wählermehrheiten gäbe. Wie alle einschlägigen Umfragen immer wieder zeigen, stimmt das Gegenteil: Bis weit hinein in die moderne und mobile Mitte der Gesellschaft reicht das Bekenntnis zum tatkräftigen Sozialstaat. Und die Menschen erwarten noch immer, dass gerade die SPD diesen garantiere.

So könnte es sein, dass die zuletzt verstummte Sozialdemokratie im Wahlkampf doch noch wieder zu sich selbst findet – aus purer Not. Es wäre eine freundliche Ironie der Geschichte. Wenig in den vergangenen Jahrzehnten hat so an der Substanz der deutschen Sozialdemokratie gezehrt wie der wahllose Pragmatismus der nun ablaufenden vier Jahre. Jetzt ist es vielleicht Gerhard Schröder selbst gewesen, der dieser gedankenlosen Episode ein Ende gemacht hat. Für die Zukunft seiner Partei und dieser Republik wäre es nicht das Schlechteste. TOBIAS DÜRR