Die Mutter aller Schlachten

Gehörnte Damen aus dem Wallis kämpfen sich durch – wehe denen, die ihnen zu nahe kommen

„Der Geist der Walliser!“, sagt ein adretter Herr ganz oben auf der Zuschauertribüne

Wenn es eine Mutter aller Schlachten gibt, dann heißt sie Doris. Rotbraun schimmernde Haut, gewölbte Stirn, geblähte Nüstern. Aus ihren blutunterlaufenen Augen blitzt unbedingter Siegeswille. Wehe denen, die ihr zu nahe kommen! Wenn sie mit ihren kurzen, schwarzweißen Hörnern zustößt, dann gibt es kein Entrinnen: 800 Kilogramm geballtes Fleisch rammen sich in die Schädel der Gegnerinnen. Blut fließt trotzdem so gut wie nie, es geht um Kraft, nicht um Gewalt.

Das hat Doris genauso unerschütterlich im Instinkt wie ihre 175 Rivalinnen, die sich an diesem Feiertag beim Finale der Kuhkämpfe im schweizerischen Kanton Wallis gemessen haben. Unter weißen Gipfeln und trägen Wolkengebirgen strömten zehntausend Rinderfreunde in Aproz bei Sion zusammen, um sie hautnah mitzuerleben, die Schlacht aller Schlachten. Die Lust am Spektakel war umso größer, als im vergangenen Jahr wegen des Maul- und Klauenseuchenalarms die Kühe im Stall und ihre Fans zu Hause bleiben mussten. Nach den obligatorischen lokalen Ausscheidungskämpfen trafen die Besten der Besten nun endlich wieder aufeinander. Saddams Jubelparaden sind Teekränzchen dagegen.

Es ist ein archaisches Bild, das sich dem Beobachter bietet. 10 bis 15 Kühe der Eringer-Rasse werden von wackeren Gesellen gleichzeitig in den Ring geführt. Schon in diesem Moment erspähen Kenner den Charakter und die Tagesform der Kombattantinnen. Ein Siegertyp ist, wer sich wild schnaubend und bockend Platz und Respekt verschafft. Kein Kampf ohne Vorspiel: Den Kopf gesenkt und dumpf brummend scharren die Gegnerinnen im Erdboden. Nur Anfänger greifen sofort an. Madame Roseau aus dem Dörflein Stalden, die kürzlich einen lokalen Kampf gewinnen konnte, muhuuut in die Runde: „Kommt doch her, wenn ihr euch traut!“ Ein feindseliger Blick nach links, ein Hufschlag nach rechts, und plötzlich prallen zwei Kuhköpfe aufeinander. Hörner verkeilen, Nüstern schnaufen, die Erde bebt unter Halt suchenden Hufen. Die stiernackige Roseau erscheint heute besonders erpicht auf ein knackiges Scharmützel. Wer will da schon aufmucken! Doch da, von hinten naht eine Gegnerin, es ist Fräulein Lolita aus Haute-Nendaz mit ihren elegant geschwungenen Hörnchen. Das Fräulein greift an und erntet freudigen Beifall auf den Tribünen, wo die Zweibeiner es sich bei Rotwein und Crêpes bequem gemacht haben. Zack! Applaus brandet auf, auch Johlen hie und da. Dann, wie aus heiterem Himmel, pariert Madame Roseau und schlägt ihre Stirn, die stahlharte, der Rivalin zwischen die Augen. Diese kuscht und macht sich schnellstens aus dem Staub, während die Siegerin zwei weitere Opfer durch den Ring jagt. Wer jetzt vermutet, die Kühe würden bei solch heftigen Kämpfen schwere Blessuren davontragen, der irrt. „Es liegt im Naturell der Eringer-Rasse, dass die Kühe immer ein bisschen aggressiv sind“, sagt Monsieur Felloy Elie, Chef des kantonalen Züchterverbandes, „aber das ist eher ein Erproben der Kräfte, die Tiere verletzen sich nur ganz selten“.

Sie sind ein anspruchsloses, aber kräftiges Volk, diese Eringer. Ihre Urahnen kamen einst im Schlepptau römischer Kohorten in das abgelegene Land, das wir heute Wallis nennen. Nur 13.500 Tiere gibt es, davon sind 6.200 Kühe – jede hat einen ausgeprägten Charakter. Und einen eisernen Willen, der sie auch auf der Weide zu so mancher Rauferei antreibt.

In alter Zeit, als noch wilde Tiere die Herden bedrohten, müssen die Eringer ihr Kampftalent entdeckt haben. Später richteten sie ihre Hörner aus Mangel an Gelegenheit nicht mehr gegen Wölfe und andere Schurken, sondern gegen Artgenossen, die den eigenen Stallgefährten die saftigsten Gräserlein abluchsen wollten: Die Königin, die beim Alpaufzug den Sieg über die Rivalinnen davontrug, erkämpfte für sich und ihre Gang den besten Weideplatz und bescherte ihrem Besitzer nicht nur Prestige, sondern auch einen wirtschaftlichen Vorteil. Ein schlauer Bursche erkannte schließlich das unterhaltsame Potenzial dieser seltenen Art von Rindviechern und organisierte im Jahr 1923 den ersten Walliser Kuhkampf. So wurde eine Rasse zur Attraktion, deren Fleisch Gourmets zwar als besonders zart rühmen, die sich in der Milchproduktion aber vornehm zurückhält.

Aus den einst im dörflichen Kreis abgehaltenen Walliser Kuhkämpfen sind heute Volksfeste für Jung und Alt mit Sponsoren, VIP-Zelt und allem sonstigen Pipapo geworden, das die Erlebnisgesellschaft verlangt. Dennoch ist die Atmosphäre des Urwüchsigen nicht gänzlich verflogen. Bei Kartoffelbrei und Rinderbraten wird wild über die einzelnen Kämpfe diskutiert, der Wein fließt reichlich. Ein bärtiger Gevatter dirigiert seine Lieblingskuh durch die Menge. Auf einer Holzbank lagert ein ehemaliger Torwart des FC Lugano und doziert vor angeheitertem Publikum über seine Reisen „mit der Fifa und dem Joe Blatter“ nach Mali. „Prost!“, sagt der Torwart. „Muh!“, sagt die Kuh. Ja, es ist eine Rarität, dieses Kuhkampffinale. „Das ist das wichtigste Ereignis im Wallis. Der Geist der Walliser!“, sagt ein adretter Herr ganz oben auf der Zuschauertribüne. Er muss das sagen, schließlich ist er der Vertreter des größten Sponsors der Veranstaltung. Aber er könnte Recht haben. Am Ende bekommt eine dicke, schielende Kuh den Titel und eine fast ebenso dicke Glocke um den fleischigen Hals gehängt. Ab sofort darf sie sich Königin nennen. Doris, die Mutter aller Schlachten, hat sich da schon längst auf einem gemütlichen Moos ausgestreckt und döst in den Abend hinein. Sie hat die beruhigende Gewissheit: Sie ist trotzdem die Beste, möge da siegen, wer da wolle.

FLORIAN HARMS