Kalbsknorpel an Unterhosengeflatter

Lesen regt die Säfte an: im Magen und auch anderswo. Zumindest, wenn es sich um die Liebesgeschichten und Venedigbesuchsanweisungen von Tiziano Scarpa handelt. Jeden Sinn bedenkt der cannibali-Literat, wenn er von der Stadt der Betttuchparaden und Kaugummibrücken erzählt

So manchen Köpfen möchte man nur allzu gerne in ihre Gehirnwindungen schauen. Zumindest in die der viel versprechenden Art, die voller Irrwege, Krater und Schluchten sind. Bei einem Autor wie Tiziano Scarpa ist die gesamte Masse mit Sicherheit noch mit einer bittersüßen, beißend bösen Flüssigkeit getränkt. Mit seinem Roman „Occhi sulla graticola“ wurde das schreibende Talent 1996 sogleich von etikettierwütigen Rezensenten in die literarische Schublade der „letteratura pulp“ katapultiert. Vorherrschende Zutaten waren bei den so genannten cannibali-Autoren wie etwa Aldo Nove, Niccolò Ammaniti und Matteo Galiazzo Blut, Sex und alle erdenklichen Formen inhaltlich-stilistischer Narrenfreiheit.

Der Verlag Klaus Wagenbach hatte bereits mit Tiziano Scarpas Erzählband „Amore“ das „neue Enfant terrible“ nach Deutschland importiert. Das Markenprodukt „Liebe“ ist saisonbedingt und facettenreich, sinnlich und lächerlich, aufregend und pervers zugleich. Dasselbe gilt für die Geschichten Scarpas. Diese sind so wunderbar abstrus und haarsträubend schräg, dass es in den Hirnwindungen des Autors gar nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Da gibt der Papst schlüpfrige Witze und sonstigen Schweinskram von sich. Da brütet eine Frau in ihrer leeren Augenhöhle ein Ei aus und verhilft mit selbiger Aushöhlung einem Eremiten zu höchstem Lustempfinden. Da frönt ein älterer Herr dem Körperkult, schafft es zum „Mister Muskelpaket“ und schrumpft sich schließlich zurück auf seine ursprüngliche Körpergröße bzw. zu Tode. Und da wird eine Erzählung mit den Worten „Was mir so durch den Kopf geht, während Maria Grazia mir einen bläst“ betitelt.

Immer geht es um die Darstellung des Menschlichen, allzu Menschlichen. Scarpas Literatur ist dabei herrlich indiskret, sehr kurios, sehr makaber und sehr schonungslos. Aber auch sehr, sehr sinnlich. Mit dem Buch „Venedig ist ein Fisch“ legt der Wagenbach Verlag nun ein gemäßigteres, aber nicht weniger sinnliches Werk des gebürtigen Venezianers Scarpa vor. Dabei handelt es sich so gar nicht um einen drögen Reiseführer, sondern um ein äußerst buntes Werk, gespickt mit unzähligen Anekdoten, Zitaten, einem Glossar, einer Kriminalgeschichte und sonstigem originellem Inventar.

In den neun Kapiteln, den Körperteilen gewidmet – von „Füße“ über „Ohren“ bis „Augen“ –, wird der Leser dabei aufgefordert, die Stadt mit all seinen Sinnen zu erkunden. Das führt einen dann beispielsweise in 65 Zentimeter breite Gassen mit Wäscheleinen voller „spektakulärer Betttuchparaden“ und „Unterhosengeflatter“; oder zur so genannten „Kaugummibrücke“, die Anfang der Neunzigerjahre 897 angeklebte Kaugummis beherbergte. Natürlich wird man auch in kulinarische Gefilde entführt, zu venezianischem Hirschschinken, Nougateis, Krabbenscheren und Kalbsknorpel.

Scarpa gibt auch tolle Tipps, und die sehen dann etwa so aus: Du sollst (bitte schön) sofort deinen Stadtplan entsorgen. Du sollst (bitte sehr) immer Hochwasserhosen bei dir tragen und deinen steigenden Hormonpegel kontrollieren. Und du sollst keinesfalls Venedig als den Ort deiner Liebeserklärungen wählen, denn: „vor einem prächtigen Hintergrund heben sich hässliche Gestalten deutlicher ab. Wenn du also nicht das Gefühl hast, Mister Universum oder Mister Hollywood zu sein, wähle eine Müllhalde als Ort deiner Liebeserklärung, […]: dann bist du das einzig Schöne in der Landschaft, ein unwiderstehliches Glanz-Konzentrat, wie ein Edelstein im Schlamm wirst du glitzern.“

Übrigens: 1997 ist die Zahl der Kaugummis an besagter Brücke drastisch gestiegen. Die letzte Zählung ergab 3.128.

SUSE VETTERLEIN

Tiziano Scarpa liest heute um 20 Uhr zusammen mit seinem Übersetzer Olaf Matthias Roth aus beiden Werken im Italienischen Kulturinstitut, Askanischer Platz 4