Medialer Wildwuchs

Am heutigen Tag der Pressefreiheit zeigt ein Blick nach Serbien: Vertreter der einstigen oppositionellen Sender sind frustriert und orientierungslos

aus Belgrad BARBARA OERTEL

Im Nachrichtenraum des unabhängigen Belgrader Fernsehsenders TV B92 starren die Mitarbeiter, eingekeilt zwischen Kaffeebechern und überquellenden Aschenbechern, konzentriert auf ihre Bildschirme. Auch Jugoslawiens Expräsident Slobodan Milošević ist via TV anwesend. Im Haager Gerichtssaal pariert er wieder einmal geschickt die Ausführungen eines Zeugen. Doch kaum jemand nimmt hier noch Notiz davon. „Die US-Organisation Irex-Pro-Media zahlt uns die ganze Berichterstattung aus Den Haag“, sagt eine Redakteurin. „Wenn es nach mir ginge – ich würde das in dieser Form nicht zeigen, höchstens als Zusammenfassung. Ein Umdenken bewirkt das bei den Menschen sowieso nicht.“

TV B92 ist der einzige TV-Sender, der den Serben täglich stundenlang und live ihren einstigen Übervater in die Wohnzimmer schickt. Und nicht nur das. Bereits dreimal zeigte der Sender den BBC-Streifen „Schrei aus dem Grab“ über das Massaker an 7.000 Muslimen in Srebrenica. Das mittlerweile zu einer festen Institution gewordene Magazin „Katarsis“ diskutiert schonungslos und in allen Facetten die Verbrechen seit dem Ausbruch der Kriege auf dem Balkan.

Doch mit seinem Bemühen, zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beizutragen, kämpft TV B92 auf relativ verlorenem Posten. Laut einer Studie des Medienzentrums und der Belgrader Agentur für Strategisches Marketing rangiert die Berichterstattung über Kriegsverbrechen beim Fernsehen an zehnter, im Radio an achter Stelle. Die Frage nach einer Verantwortung des Milošević-Regimes für die Untaten des vergangenen Jahrzehnts schafft es sogar nur auf die Plätze 123 und 19.

Innere Zensur

„Eine populistische innere Zensur“, nennt Gordana Susa, Redakteurin bei der Produktionsgruppe VIN, die eigenständig Gelder für unabhängige TV-Produktionen auftreibt, dieses Phänomen. Gesendet werde zuallererst, was beim Publikum ankäme. Dazu gehöre auch, kaum Kritik an der neuen Regierung zu üben. Den Medien fehle noch jegliche politische Kultur. „Wir werden uns bestimmte Standards erst noch erkämpfen müssen“, sagt Susa.

Anderthalb Jahre nach Milošević’ Sturz und dem Machtwechsel in Serbien herrschen bei den Vertretern der einstigen oppositionellen Medien, die jahrelang unter schwierigsten Bedingungen gearbeitet haben, Orientierungslosigkeit, Frust und Enttäuschung. Zwar hat der massive Druck merklich abgenommen – abgesehen von dem Mord an dem Journalisten Milan Pantić im Juni vergangenen Jahres, der bis heute unaufgeklärt ist. Doch viele der erhofften Veränderungen sind ausgeblieben. Obwohl bereits erarbeitet, hat das Parlament bislang weder ein neues Rundfunk- noch ein Informationsgesetz verabschiedet.

Eine der Folgen dieses juristischen Vakuums ist ein wahrer Medienwildwuchs. So gibt es derzeit landesweit 300 TV- und 600 Radiostationen, von denen viele ohne Lizenz arbeiten. Allein in Belgrad werkeln über 900 Fernsehstudios. Entsprechend erbarmungslos ist der Kampf um Werbeeinnahmen auf einem Markt, der erst im Entstehen ist und derzeit noch seinen eigenen Gesetzen folgt. Auf der Strecke bleiben dabei häufig diejenigen Sender, die sich bei nur geringen Reichweiten einen gehobenen journalistischen Standard verordnet haben, gleichzeitig aber, anders als die Privatmedien begüterter, früherer Milošević-Leute, finanziell ständig am Abgrund stehen. „Das ist eine Anarchie und hat mit Freiheit nichts mehr zu tun“, sagt Alexander Timofejev, Chefredakteur von TV B 92. Und Nebosja Spajić, Direktor des unabhängigen Radios 202, sorgt sich um die Kompetenz der Medienmacher. Dort, wo jeder quasi über Nacht zum Chefredakteur mutiert sei, könne von Professionalität keine Rede mehr sein.

Doch die Regierung von Premierminister Zoran Djindjić scheint im Moment wenig Eile zu haben, diesem Chaos abzuhelfen. Aus gutem Grund: Denn das Radiogesetz sieht unter anderem die Umwandlung der immer noch mächtigen, allseits präsenten serbischen Staatsmedien in öffentlich-rechtliche Sendeanstalten vor. Damit wäre der Sender RTS der totalen Kontrolle entzogen, die die regierende DOS-Koalition auf ihn ausübt.

Spielwiese des Premiers

Doch Premier Djindjić, der Ende vergangenen Jahres in Washington tönte, man könne RTV B92 einen Preis verleihen, aber keine Frequenz, will sein Sprachrohr und seine hauseigene Spielwiese nicht verlieren. Das hat bislang auch dringend notwendige Reformen und eine politische Öffnung bei RTS blockiert. So sind von den einst 8.000 Mitarbeitern zwar rund 2.000 entlassen worden – davon einige Führungskräfte –, doch ein Großteil der Belegschaft ist eine Altlast und diente bereits unter Milošević. Ein „Durchleuchtungsgesetz“ ist bislang über das Stadium einer Diskussion nicht hinausgekommen. „Die alten Staatssender gibt es immer noch, nur mit neuen Herren“, sagt Veran Matić, Gründer von Radio B92 und Mitinitiator von RTV B92.

Um sein Überleben muss sich der Sender, der mit fast 20 Millionen US-Dollar verschuldet ist, ohnehin keine Sorgen machen. Alimentiert wird er aus dem Staatsbudget und erhält umfangreiche Mittel von der internationalen Gemeinschaft für die Transformation. Gleichzeitig garantieren RTS die bestehenden Gesetze einen hohen Anteil an den Werbeeinnahmen.

Auch gute Connections zwischen Bodo Hombach, ehemals Koordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa und jetzt Mitgliedes des Vorstands des WAZ-Konzerns, und Premier Djindjić zahlen sich aus. Die WAZ ist bereits bei dem früheren Staatsverlag Politika gut im Geschäft. Politika besitzt 14 Zeitungen und Zeitschriften, ein Bürohaus in Belgrad, eine Druckerei und ein bedeutendes Vertriebsnetz. Für Matić hat dies nicht das Geringeste mit fairem Wettbewerb und gleichen Ausgangsbedingungen zu tun. „So kann man auch Stabilität schaffen“, sagte er kürzlich in einem Interview. „Alle Medien in einer Hand.“