Die Gysin

Er fragt sich, wie er wirkt. Angenehm? Lächerlich? „Toll macht er das“, flüstert eine Hardcore-Lesbe.

von UTE SCHEUB

Es müssen die Taliban sein. Vielleicht sind sie in Afghanistan gestürzt worden. Aber in Berlin scheint es sie noch zu geben. Wie sonst ist erklärbar, dass es in der Hauptstadt strikt nach Geschlechtern getrennte Welten gibt? Die Männerwelt der Wirtschaftsbosse und die Frauenwelt der Klein-klein-Projektchen. Welch ein Glück, dass es einen Mann gibt, der beide Welten besuchen darf, der mit seinem Kommunikationstalent Grüße von der einen zur anderen Seite überbringt. Gegenüber dem männlichen Publikum tritt er als Wirtschaftssenator auf, gegenüber dem weiblichen als Frauensenatorin. Seit hundert Amtstagen schon hält er diese Dauerperformance durch: Gratulation, Gregor Gysi.

8. März, Frauenwelt: Der Senatorin für Weiber und Wirtschaft betritt die „Weiberwirtschaft“. Das „größte Gründerinnenzentrum Europas“ steht wuchtig-weiß in Berlins Mitte. Der Altbau beherbergt stolze 60 Projekte – meist Ein-Frau-Betriebchen, von der Komponistin über die Stadtführerin bis zur Bildhauerin. Ein Rundgang dort ist ein Pflichttermin für das Oberhaupt einer Frauenverwaltung, zumal am internationalen Frauentag. Freundliche Begrüßung, Händeschütteln. Und: „Ach herrje, da hätt ick ja fast das Wichtigste verjessen.“ Der hohe Gast eilt zurück zur Staatskarosse und kehrt wieder, den Arm voller roter Rosen.

Zweiter Stock, Geschenkeversand Miadema: Hoffnungsvoll steht die Inhaberin zwischen wabernder Klaviermusik, fast als würde sie einen Liebhaber erwarten. Dekodeckchen, Herzchen in Zellophanbeuteln, Perlen und Kerzen auf den überbordenden Regalen. Eng ist es hier. „Typisch für die Frauen, ein sehr kleiner Betrieb“, kommentiert die Vorstandsfrau von der Weiberwirtschaft. Die Dekofrau berichtet, dass sie auch mit einem Erotikkaufhaus zusammenarbeitet: „Schaufensterdekoration. Ich biete das Ambiente. Wussten Sie, dass Goethe erotische Rezepte sammelte?“ Der Gast kann sich nur mit der Überreichung von fünf roten Rosen retten.

23. April, Männerwelt: Der Senator für Wirtschaft und Technologie betritt das Hotel Estrel. Es liegt am Rande von Neukölln, ein monumental in die Breite gehendes Bauwerk. Hier wird der „7. Deutsche Logistik- und Verkehrsleitertag“ abgehalten. Der Senator ist bestellt, um Mitarbeitern von Axid AG und BMW den „Kooperationspreis Deutsche Logistik“ zu verleihen, für die „Nutzung der Logistikplattform AX 4“. Rund tausend Zuhörer blicken erwartungsvoll auf den kleinen Redner da vorne. Die Männerquote dürfte bei annähernd hundert Prozent liegen – einige wenige Ehegattinnen nicht mitgerechnet, die das Damenprogramm ausfallen ließen, um endlich mal „den Gysi live“ zu hören.

„Hundert Tage im Amt“, sagt der Redner, „es kommt mir wie dreihundert Tage vor. Das ist kein gutes Zeichen. Die Zeit hätte im Flug vergehen müssen, aber irgendwie zog sie sich hin, vielleicht wegen der Fülle der Probleme in dieser Metropole.“ Wie zur Illustration verschwimmt des Senators grauer Anzug vor dem grauen Tagungsbanner und dem grauen Saalteppich. Sein Traumjob scheint es nicht gerade zu sein, das neue Amt. Vorbei die Zeiten, als er in Bundestagsdebatten und Talkshows brillieren konnte. Jetzt geht es um Akten fressen und Haushaltsschulden bilanzieren, um Bürokratie, Sachzwänge und die Entwicklung von Hinterteilhornhaut in endlosen Sitzungen. „Kärrnerarbeit statt Johannes B. Kerner“, hat neulich der Bündnisgrüne Werner Schulz schon gespottet. Oder ist es etwa die Männerwelt, die ihn so ermüdet?

8. März, Frauenwelt: Pause im Tagungsraum der „Weiberwirtschaft“. „Mir qualmt die Birne“, sagt der Frauensenator und qualmt eine Zigarette. „Ich würde ja gern einen Existenzgründerinnen-Kongress machen“, sinniert er. War das der richtige Vorschlag? Hab ich das gut gesagt? Er schaut in die ihn liebreizend umringende Frauenrunde. „Wie erscheine ich aus dem Blickwinkel einer Frau? Worin wirke ich angenehm, sympathisch? Wann mache ich mich lächerlich?“ – vor gut zwei Jahren fragte er sich das schon in der Zeit, und es scheinen zentrale Fragen seines Lebens zu sein. „Wir ärgern uns jedes Mal“, sagt gerade eins der Wirtschaftsweiber, „wenn wir zu den ‚Existenzgründer- und Unternehmertagen‘ eingeladen werden.“ „Das werden Sie von mir nicht hören“, entgegnet der Senator mit ernsthaftem Eifer. „Meine Verwaltung gewöhnt sich gerade an, jeden Brief auf die weibliche Form umzuschreiben.“ Beifälliges Nicken. „Toll macht er das!“, flüstert eine Hardcore-Lesbe.

Die Presse hat noch Fragen. Sie haben doch heute mit dem Finanzsenator verhandelt, wird der Etat für die Frauenprojekte gekürzt? „Wenn überhaupt, nur minimal.“ Wie finden Sie sich zurecht im Amt? „Am Anfang war ich nicht so sicher, dass ich das packe. Jede Nacht habe ich Akten gelesen. Jetzt geht’s jeden Tag besser.“ Und warum wollten Sie Frauensenator werden? „Es hat einen Vorzug: Da, wo mir am wenigsten zugetraut wird, werde ich besonders ehrgeizig.“

23. April, Männerwelt: „Wir sind reich“, sagt der kleine graue Herr vor den großen grauen Herren, „bloß wir haben kein Geld. Wir haben attraktive Dienstleistungen, ein tolles Kulturangebot, ein sehr gutes Nahverkehrssystem, bezahlbare Büros.“ Hallo, sitzt da nicht jemand im Saal, der mit 2.000 Arbeitsplätzen nach Berlin umziehen will?, scheint der Redner zu rufen. Welcher Partei gehört er noch mal an? CDU oder FDP?

Die Geschichte hat ihn ganz schön verladen, an den falschen Ort, und er scheint es zu wissen: „Die Pleite der Berliner Bankgesellschaft hat den Linken den Traum von der Staatsbank ausgetrieben.“ Staatseigentum ist ein Wort, das er inzwischen wohl nicht mehr hören kann. Banken, städtische Betriebe, Wohnungen – viel zu viel Staatseigentum im hyperverschuldeten Berlin. „Wir haben ein kleines finanzielles Problem“, sagt er vor den Herren. Er meint die 38 Milliarden Euro Schulden der Hauptstadt.

Das politische Programm des rot-roten Senats lässt sich in einem einzigen trostlosen Wort zusammenfassen: sparen. Schlechter als im abgewirtschafteten Berlin kann man nirgendwo deutlich machen, wo im „demokratischen Sozialismus“ noch ein Quäntchen Systemalternative stecken soll. Wie konnte der kluge Gysi nur in diese dumme Falle tappen? „Die hundert Tage sind noch nicht ganz rum, und wir werden jetzt schon medial verrissen“, sagt er gerade. „Wenn das die Schonzeit war – au backe!“

„Wir haben ein kleines finanzielles Problem“, sagt er. Die Geschichte hat ihn ganz schön verladen.

8. März, Frauenwelt: Verleihung des diesjährigen Frauenpreises, im Roten Rathaus von Berlin warten an die 1.000 Zuhörerinnen und drei Zuhörer. „Als Frauensenator“, sagt er gleich zu Beginn, „hab ich mir zunächst nichts anderes als Spott verdient.“ Ein Lachen geht durch den Saal, die Herzen sind im Sturm erobert. Was Koketterie angeht, ist die Gysin die weiblichste aller Frauen.

Dann die Aufzählung seiner Vorhaben: Bekämpfung der häuslichen Gewalt und Verweis von Prügelmännern aus der gemeinsamen Wohnung, mehr Frauen auf Professorenstellen, Förderung von Existenzgründerinnen. Überhaupt, Frauen seien die besseren Unternehmerinnen, sie zahlten ihre Kredite pünktlicher zurück, legten weniger Pleiten hin und würden sich nicht „ständig so überschätzen wie die Männer“, wie Kirch, Holzmann & Co. Lachen und Klatschen. Dass ein Mann das sagt, und dazu ein so prominenter, ach, das tut der Frauenseele wohl. Und überhaupt: Feindliche Übernahme aller Multis durch die Alice Schwarzer GmbH & Co KG, Aktienkauf nur noch für Frauen erlaubt, und der Kapitalismus ist gerettet – oder wie?

23. April, Männerwelt: Hier ist keine Rede mehr von den besonderen Qualitäten der Unternehmerinnen – wie auch, wenn man auf deren männliche Variante so dringend angewiesen ist, dass man jeden neu geschaffenen Arbeitsplatz in Berlin persönlich abküssen muss. Gestern, so berichtet der Wirtschaftssenator, habe er zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister das Vergnügen gehabt, mit dem Softwarekonzern SAP einen Niederlassungsvertrag abzuschließen. Für 550 neue Arbeitsplätze in der Millionenstadt marschierte gleich die halbe Regierung zur Feierstunde auf.

„Ich freue mich“, sagt der Wirtschaftssenator, „dass Sie Ihren Kongress diesmal nach Berlin geholt haben. Und ich hoffe, Sie kaufen hier möglichst viel ein.“ Die Männerrunde amüsiert sich köstlich: Endlich ein Wirtschaftssenator, der nicht gleich langweilig wie man selbst vor sich hin brabbelt. „Sie sind ja wirklich ein fantastischer Verkäufer geworden“, lobt ihn der Chefredakteur der Deutschen Verkehrs-Zeitung und schaut in den Saal: „Vielleicht verlegt ja jetzt der eine oder andere Unternehmer seinen Sitz nach Berlin.“ Niemand meldet sich.

Abschied von der Talibanwelt. Auf zum nächsten Termin. Der Senator klemmt sich in seine Limousine zwischen die Aktendeckel. Gefällt Ihnen so ein Leben, während draußen der Frühling tobt? „Ich verbiete mir strengstens“, sagt er, „darüber nachzudenken.“