DAS ENTSETZEN VON ERFURT

Inszenierter Selbstmord

Amokläufer sind meist stark beziehungsgeschädigt, unglücklich und fühlen sich innerlich bedroht. „Oft mangelt es an familiärer Stabilität und Selbstwertgefühl“, erklärt der Kölner Traumapsychologe Christian Lüttke. Bei der Tat selbst handele es sich dann im Grunde um einen inszenierten Selbstmord. „Amokläufe geschehen nie spontan, sie haben eine längere Vorgeschichte.“ Unsicherheit, Angstzustände und ein ständiges Gefühl der Bedrohung schlügen irgendwann in Aggressionen und Gewalt um. „Dann schafft sich der Täter eine Bühne, auf der er im Mittelpunkt stehen kann.“

Bei Amokläufen hätten sich zwei Grundszenarien herauskristallisiert, erklärt der Psychologe. Zum einen Beziehungstaten, wie etwa kürzlich in Freising (siehe Kasten), bei denen der Täter bestimmte Orte wie Schulen oder Betriebe aufsucht und sich gezielt an bestimmten Personen rächen will. Das zweite Szenario zeichne sich dagegen durch totale Beliebigkeit aus. Hier töte der Amokläufer wahllos Menschen, zu denen er keine persönliche Beziehung haben müsse.

Die meisten Täter, die ihren Amoklauf überlebt haben, berichten laut dem Psychologen von einer inneren Leere vor der Tat. Erst wenn das „Stichwort“, beispielsweise in Form einer erneuten schlechten Note oder einer Trennung, falle, spiele sich ein vorgefertigtes inneres Drehbuch ab. „Die Täter spulen dann ihre Rolle ab“, die sie sich in ihren Fantasien ausgemalt haben, erklärt Lüttke weiter. Dabei befänden sie sich in einer Art Rauschzustand, in dem die Realität und sämtliche Impulskontrollen ausgeschaltet würden. „Menschen wie Lehrer und Schüler werden dann häufig gar nicht mehr in ihrer Rolle wahrgenommen, sondern nur noch als bedrohliche Wesen.“ Dieser Zustand höchster Erregung halte in der Regel keine Stunde an. Dann hat den Täter die Rationalität wieder – und sieht die Ausweglosigkeit seiner Situation.

Die Menschen, die sich in der Gewalt der Täter befänden, erlebten hingegen reine Bedrohung und Todesangst, erläutert der Psychologe. Panikreaktionen seien selten. Da Flucht unmöglich und der Kampf mit einem bewaffneten Täter ausweglos scheine, verliere der Körper in so einer Situation jegliches Zeitgefühl, erklärt Lüttke: „Man ist wie betäubt.“ In einer Gruppe sei dieses Gefühl der Ausgeliefertsein zwar leichter zu ertragen. Bei einem Drittel der Betroffenen sei jedoch mit längerfristigen psychischen Folgeschäden zu rechnen, wenn sie keine psychologische Behandlung bekämen. AP