Erst Rabatz, dann Kompromiss

aus Berlin PATRIK SCHWARZ
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Hinter verschlossenen Türen entlädt sich der Zorn lautstark, auf offener Bühne etwas wohltemperierter, doch an Gerhard Schröders Ärger auf Brüssel ist kein Zweifel möglich. Von der Elektroschrottrichtlinie bis zur „Gruppenfreistellungsverordnung“ reichen die Felder, auf denen der Kanzler Deutschland benachteiligt sieht. Sein zentraler Vorwurf lautet, die EU-Kommission nehme Industriepolitik nicht wichtig genug. Dabei ist eine starke Industrie in Schröders Augen gerade für die Bundesrepublik entscheidend – und für den SPD-Chef, VW-Freund und Wahlkämpfer ebenso. Am Montag fliegt der Bundeskanzler darum nach Brüssel, um EU-Kommissionspräsident Romano Prodi sowie mehreren Kommissaren die Meinung zu sagen – und er will es ganz taktvoll tun.

Vorausgegangen ist freilich eine wochenlange Rabatz-Phase. Als der Bundesregierung aus Brüssel der „Blaue Brief“ drohte, verdonnerte ein erregter Kanzler sogar seine widerstrebenden Minister zum Aufstand. Sowohl Außenminister Joschka Fischer als auch Finanzminister Hans Eichel hatten den EU-Warnhinweis stillschweigend einstecken und wegnicken wollen. Wenig später, in der Kabinettssitzung am 1. März, bestrich Schröder dann die EU-Kommission in ihrer ganzen Breite mit Streufeuer.

Der äußere Anlass war die Kritik des Binnenmarktkommissars am VW-Gesetz, das der niedersächsischen Landesregierung Einfluss beim Autobauer garantiert. Dass der Kanzler am Sonntag zuvor noch mit seinem Freund und ehemaligen EU-Balkan-Koordinator Bodo Hombach beisammengesessen hat, mag den Groll noch bestärkt haben: Seit Hombach Brüssel verlassen hat, ist er ein vehementer Kritiker der Bürokratie.

Seit Tagen feilt nun im Kanzleramt der Leiter der Europagruppe Reinhard Silberberg an der Argumentationsstrategie für das Gespräch mit Prodi. Die Oberaufsicht hat Frank-Walter Steinmeier persönlich, der Chef des Bundeskanzleramtes. Ganz diplomatisch möchten die Deutschen den EU-Kommissaren die Augen dafür öffnen, dass sich von der chemischen Industrie bis zum Auto- und Maschinenbau große „industrielle Kerne“ nur noch in einigen wenigen Mitgliedsstaaten finden. Diese Staaten seien freilich in der Minderheit gegenüber Partnerländern mit Schwerpunkten auf Finanzmärkten, Medien und Dienstleistungen. Wenn nun auch noch die Kommission die Industriepolitik vernachlässigt, so argumentieren Schröders Helfer, neigt sich das Gleichgewicht in Brüssel endgültig gegen Deutschland. Bei der Eröffnung eines neuen Opelwerkes in Rüsselsheim machte Schröder dieKritik öffentlich: „Gelegentlich haben wir den Tatbestand, dass in Brüssel zu wenig an industrielle Produktion gedacht wird und geglaubt wird, man könne nur von Dienstleistung leben.“

Zum Krach führt die Haltung des Kanzlers unweigerlich bei Umweltanliegen wie der Altautoverordnung oder der Begrenzung chemischer Schadstoffe. „Es kann nicht darum gehen, einseitig industriepolitische Positionen durchzusetzen“, warnt der grüne Europapolitiker Christian Sterzing. Nicht erst seit Schröders Streit mit Umweltminister Trittin über die Altautoverordnung blickt der Koalitionspartner irritiert auf die ökologischen Folgen der Kanzlerschelte für Brüssel. Die Grünen sehen gerade in den weniger industriell orientierten EU-Staaten wichtige Verbündete für verbesserten Umweltschutz.

Auch taktisch hält Sterzing Schröders Auftreten für unklug. „Das ist nun mal Brüssel“, sagt er, „das sind 15 Staaten und es nützt wenig, mit der Faust auf den Tisch zu hauen.“ Selbst in der Kommission seien die Entscheidungen schwieriger zu treffen als am Berliner Kabinettstisch: „Prodi hat ja keine Richtlinienkompetenz wie der Kanzler.“ Letztlich steht hinter dem Konflikt der Clash zweier Regierungsstile. In Brüssel die Konsensmühle einer übernationalen Kommission, in Berlin das Regieren mit Blick auf nationale Öffentlichkeiten – und Wahltermine.

Sterzings Prognose für das Prodi-Gespräch lautet daher: „Es wird einen Kompromiss geben – wie immer in Brüssel.“ Wie man dorthin kommt, darüber herrschen auch unter deutschen Politikern unterschiedliche Meinungen. Das traditionell diskrete Außenministerium sieht die deutlich rabiateren Lobbymethoden des Kanzleramts skeptisch. Allerdings wird auch unter Diplomaten etwa der Erfolg der so genannten Steinmeier-Runde gesehen. Dort koordiniert die Regierung inzwischen regelmäßig alle deutschen Bewerbungen für Top-Posten in internationalen Organisationen, EU-Kommission inklusive. Die Rabatz-Strategie gegenüber Prodi ist aus Sicht des Kanzleramts jedenfalls aufgegangen. „Unsere Gespräche mit der Kommission im Vorfeld des Besuches haben gezeigt, dass auch in Brüssel ein Umdenkprozess in Gang gekommen ist“, ließen Regierungskreise die taz wissen, „das werten wir als gutes Zeichen.“

Auch in Brüssel sieht man sich allerdings im Vorfeld als Punktsieger. Anders als auf dem Barcelona-Gipfel Mitte März zwischen dem Kommissionspräsidenten und Kanzler Schröder vereinbart, werden nämlich nicht am Montag nicht Prodi samt Umweltkommissarin Margot Wallström, Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein und Wettbewerbskommissar Mario Monti in Berlin vorsprechen. Nein, Schröder kommt zur Aufwartung nach Brüssel. Sein nationaler Kontrahent, der Kanzlerkandidat aus Bayern, der am Mittwoch in Brüssel vorsprach, ließ es sich natürlich nicht nehmen, die diplomatische Niederlage seines Konkurrenten auszuschlachten.

Ein gelassen-weltmännischer Edmund Stoiber berichtete, er habe dreieinhalb Stunden mit seinem Freund Prodi geplaudert. Die Kommission sei doch kein Wanderzirkus, „der zum Rapport bestellt werden kann“. Die Parteifreunde aus CDU und CSU malten eifrig mit am Konterfei des begeisterten Europäers Edmund Stoiber: Eineinhalb Stunden habe er vor der konservativen Fraktion des Europaparlaments gesprochen, „lang anhaltenden Beifall“ geerntet. Der Kandidat sei ein glaubwürdiger Europäer „in der Tradition von Kohl und Strauß“, betonte stolz der Fraktionsvorsitzende Hans-Gert Pöttering. Während Brüssels Auslandspresse verblüfft zur Kenntnis nimmt, dass der Kandidat in ganzen Sätzen spricht und Tiraden seines Parteifreundes Erwin Teufel gegen die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie albern findet, wird Schröder zunehmend zum Gespött.

Wenn die Brüsseler Korrespondenten vom deutschen Kanzler reden, dreht sich das Gespräch weniger um rote Zahlen oder blaue Briefe als um Haarfärbemittel. Romano Prodi hat dem Kanzler schriftlich schon mal ausrichten lassen, er solle sich vom Besuch in Brüssel keine Wahlkampfhilfe versprechen. „Nein, eine besondere Rücksichtnahme darf ich nicht zulassen. Ich muss jedes Land gleich behandeln, sonst kann ich meinen Job nicht erfüllen“, sagte er der Süddeutschen Zeitung. Schröder grollte zurück, Prodi habe leicht reden. Ihm sitze ja kein Wahlvolk im Nacken. Es gebe in der Kommission eine „unglaubliche Diskrepanz zwischen Entscheiden-Können und Verantworten-Müssen“.

Tatsächlich führt die historisch gewachsene schiefe Konstruktion der Brüsseler Institutionen dazu, dass Bolkestein die umstrittene Gruppenfreistellungsverordnung (siehe Kasten „streitpunkt eins“) ändern kann und Schröder dafür am 22. September den Kopf hinhalten muss. Solche Macht hat die Kommission aber nur in Fragen, die Details des Binnenmarktes betreffen. In allen anderen Politikbereichen hat nach wie vor der mächtige Rat der Mitgliedsländer das letzte Wort.

Diese Tatsache könnte Schröder am Montag in Brüssel vielleicht doch noch einen unerwarteten Triumph bescheren. Da auch in Frankreich Parlamentswahlen anstehen, tauschen die beiden großen EU-Länder derzeit ihre Wahlgeschenke aus. Der Deal ist fast perfekt: Deutschland toleriert die französischen Zuschüsse zur Mineralölsteuer bis Jahresende weiter. Das stimmt die französischen Lasterfahrer milde. Zum Ausgleich drückt Frankreich beim Kohlepfennig beide Augen zu, dem sonst im Sommer das Aus gedroht hätte.

Der Kanzler könnte dann immerhin eine gute Nachricht für die Kumpels im Revier von seiner Reise nach Brüssel zurückbringen. Damit werden zwar heute keine Wählermassen mehr mobilisiert, aber diese Botschaft lässt sich noch immer gut verkaufen: Berlin lässt sich von „denen in Brüssel“ nicht alles gefallen.