Chinas neue Arbeiterbewegung

Seit Monaten demonstrieren Arbeitslose im Zentrum der chinesischen Ölindustrie. Sie entstammen einer gut organisierten, einst wohlhabenden Elite

aus Daqing GEORG BLUME

Arbeitslosenproteste in China: Man stellt sich Kumpel in Mao-Monturen vor, die durch dreckige Industrieruinen marschieren – die Volksarmee auf ihren Fersen. Doch in der Zweimillionenstadt Daqing, rund 1.600 Kilometer nordöstlich Pekings in einem riesigen Erdölfördergebiet gelegen, bietet sich ein anderer, unerwarteter Anblick vom Arbeitslosenkampf: Die Protestierenden tragen saubere Anzüge und bunte Goretex-Jacken. Keine Spur vom Elend der Massen. Ihr Treffpunkt ist eine moderne Parkanlage vor imposanter Hochhauskulisse. Und statt der Volksarmee begleiten sie Volkspolizisten in Zivil.

Unerwartet ist auch die Ausdauer der Demonstranten: Schon seit dem 1. März sind sie täglich auf den Beinen, ein paar hundert Menschen an diesem Morgen. Seit den Studentenunruhen von 1989 hat es so lange anhaltende Proteste in China nicht mehr gegeben. Eine neue Bewegung ist entstanden: die der arbeitslosen Ölarbeiter von Daqing.

Ihre Forderung lautet einfach und aussichtslos: Wiedereinstellung bei PetroChina, dem größten Ölkonzern des Landes, der vor zwei Jahren im Zuge seiner Börseneinführung in New York und Hongkong 75.000 Arbeitern in Daqing den Job kündigte. Von denen erhielten die meisten eine ordentliche Abfindung. Doch die ist nun verbraucht. Die 50.000 bei PetroChina verbliebenen Arbeiter kassieren dagegen gestiegene Gehälter. Das macht die Entlassenen wütend. Sie haben Angst vor sozialem Abstieg. Die Ölproduktion stagniert, die Ölvorkommen schrumpfen. Neue Arbeit ist nicht zu finden. Deshalb verlangen die Demonstranten ihren alten Arbeiterstatus zurück – er garantiert zumindest eine kleine Rente und die Krankenversorgung. Bis zum Nationalfeiertag am 1. Oktober, sagen die Arbeitslosen in Daqing, soll ihre Bewegung andauern.

Konzern und Regierung denken gar nicht daran, den Forderungen der Demonstranten nachzugeben. Aber die Regierungspolitik des Totschweigens der Demonstrationen funktioniert nicht. Trotzdem die chinesischen Medien bisher kein Wort über die Lage in Daqing verloren, griff der Protest in dieser Woche auf arbeitslose Ölarbeiter in Lanzhou im Nordwesten Chinas über. Nach telefonischen Augenzeugenberichten blockierten dort an drei Tagen einige hundert Arbeitslose den Verkehr – ausgelöst durch die Ereignisse in Daqing.

Eine einfache Erklärung für die Unruhen liefert ein Marktverkäufer in Daqing: „Die Arbeitslosen haben kein Geld mehr, Obst zu kaufen. Macht haben sie sowieso keine. Da können sie nur protestieren.“ Tatsächlich befinden sich die entlassenen Ölarbeiter in einer zuvor unvorstellbaren Lage: Sie waren mit Wohnungen und sozialen Diensten durch Betrieb und Arbeitseinheit lebenslänglich versorgt. Erst die Umwandlung des alten staatlichen Monopolbetriebs CNPC in das privatwirtschaftlich orientierte Unternehmen PetroChina schaffte neue Bedingungen: Die Arbeitseinheiten lösten sich auf, Rente und Krankenversicherung sind seither nicht mehr garantiert. Wer den Arbeitsplatz verlor, büßte auch den Anspruch auf alle Sozialleistungen ein. Nur aus den Betriebswohnungen wurden die Entlassenen bisher nicht verjagt.

Arbeitslosigkeit und Armut treffen in China Abermillionen. Neu in Daqing ist, dass eine gut organisierte, einst wohlhabene Elite vom sozialen Kahlschlag getroffen wird – Menschen, die ihre Rechte kennen und sich zu wehren wissen. Und neu ist auch, dass der Protest nicht örtlich beschränkt bleibt. Daqing sendet ein Signal. Warum, erklärt sich jedem Chinesen sofort aus der Geschichte. „Von Daqing lernen“ lautete einst eine maoistische Propagandaformel. Noch heute hat die Stadt ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als Schanghai. Wenn der Protest hier weitergeht, hat Peking im ganzen Land Probleme.