In schlechter Verfassung

Der Erfolg von Le Pen ist nur das Symptom. Das gesamte politische System der Fünften Republik ist renovierungsbedürftig. Denn es verhindert effektives Regieren in Paris

Das Volk mag seit Bonaparte autoritäre Führer, die es bei erster Gelegenheit davonjagen darf

Die erste Runde der Wahl zur Präsidentschaft lässt die politische Vernunft der Franzosen nicht gerade glänzend dastehen. Aber sie führt, gegen den ersten Anschein, auf den richtigen Weg. Es ist der Weg in die längst fällige Krise der V. Republik und zu einer neuen Verfassung. Das Desaster hätte zwar eleganter ausfallen können, zum Beispiel mit einem Sieg Jospins, der nach den Parlamentswahlen im Juni mit einer konservativen Regierung konfrontiert wäre. Auch dies hätte bald zur heilsamen Unregierbarkeit geführt. Sie ist nun einmal die Voraussetzung, dass es zur Staatskrise und zum erneuten Kampf um die Verfassung kommt. So etwas braucht die französische Republik alle paar Jahrzehnte.

Die Franzosen haben sich allzu lange davor gedrückt. Auch jetzt noch wollen sie nichts davon wissen, dass es vor allem die Verfassung ist, die zu diesem blamablen und realitätsfremden Zwischenergebnis geführt hat. Eine dumme Kasperliade, die sie letzten Endes dem Verfassungsstifter Charles de Gaulle zu verdanken haben. Aber der ist nach wie vor selbst für die Linke unantastbar und damit auch seine Verfassung – von der François Mitterrand, der Cäsarist, vierzehn Jahre an der Macht profitiert hat. Als der Abgeordnete Montebourg im vergangenen Jahr eine Verfassungsdebatte anstoßen wollte, wurde er von Lionel Jospin energisch zurückgepfiffen. Nun stehen die Sozialisten vor dem Scherbenhaufen, den ihnen ihre Unterwerfung unter die V. Republik beschert hat.

Die V. Republik gibt dem Präsidenten das Recht, jederzeit und ungeachtet der Mehrheitsverhältnisse das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. 1997 machte der gerade zwei Jahre amtierende Chirac davon Gebrauch, obwohl die Konservativen über eine hinreichende Mehrheit verfügten und obwohl die Regierung Juppé, vom Vertrauen des Präsidenten getragen, ordentlich funktionierte. Chirac beging diesen kapitalen Fehler allein in der taktischen Absicht, sich schon früh eine stabile Plattform zu sichern, die seine Ambitionen auf eine weitere Amtszeit tragen sollte. Sein Leichtsinn hätte ihn disqualifizieren müssen, ebenso wie später seine kleinkarierte, obstruktive Amtsführung.

Die Linke war damals, nach dem Abgang Mitterrands, verzagt, ohne Konzeptionen und überzeugende Führer. Jospin, ohne großen Ehrgeiz, sah sich als treuen Verwalter der Partei, bis diese wieder neuen Wind unter die Flügel bekommen würde.

Als das Wahlvolk, nicht zuletzt aus Ärger über Chirac, der vereinigten Linken einen großen Sieg bescherte, baute der noch etwas verdatterte Jospin aus dem Stand eine respektable und arbeitswütige Regierung zusammen. Er hielt die korrupten Günstlinge Mitterrands fern, verzichtete lange auf populistische Verführungen und brachte auch einiges zu Stande, unter anderem die 35-Stunden-Woche. Ihr Ergebnis war gemischt wie solche Reformen ja immer, aber sie hat dem Land am Ende mehr genützt als geschadet.

Große Vorhaben wie die Justizreform blieben stecken. Sie scheiterten am kleinkarierten Widerstand des Staatspräsidenten, der der Jospin-Regierung nicht den geringsten Erfolg gönnte, mochte das Vorhaben noch so dringend sein. Chirac war der schlechteste Präsident der V. Republik – was seiner Beliebtheit beim Wahlvolk immer nur vorübergehend Abbruch getan hat. Die Franzosen hielten ihn für unzuverlässig und nicht besonders erfolgreich. Aber sie sind eben noch immer unverbesserliche Bonapartisten, die den großen Capo verehren müssen – um ihn bei schlechter Laune in Verachtung fortjagen zu können.

Diesem Instinkt, der schlecht taugt für eine vernünftige politische Arbeit in einem modernen Verfassungsleben, kommt die V. Republik entgegen. Mit ihrer Plebiszitwahl des Präsidenten, der mit großer Machtfülle ausgestattet ist, schmeichelt sie in einem dem Egalitätssinn und dem Führerbedürfnis der Franzosen. Die direkte Wahl des Chefs gilt ihnen auch mehr als die Parlamentswahlen, aus denen sie nur die ewig gleiche politische Klasse erneuert hervorgehen sehen. Und die halten sie ohnehin für unheilbar korrupt. Die eigene, die Wählerkorruptheit, sehen sie im Präsidenten aufgehoben – der übergroßen Schaden ja auch nicht anrichten kann.

Vermeidung größerer Schäden – nicht viel mehr erwarten die Franzosen in normalen Zeiten von den Regierenden. Deswegen halten sie auch so wenig vom amerikanischen Effizienzwahn, der immer wieder zur Überkontrolle und zu selbst erzeugter Gewaltsamkeit führe. Woran ja einiges ist.

Eine besonders üble Konsequenz aus der Verfassung, die 1958 gestiftet worden war, ist der fortwährende Zwang zur Kohabitation. Damit ist die Doppelspitze aus Präsident und Premierminister gemeint, die verschiedene politische Farben tragen und sich dauernd Beinfallen stellen müssen. Chirac war darin Meister.

Seit der ersten Präsidentschaft von Mitterrand (1981) hat Frankreich schon dreimal, insgesamt neun Jahre, mit kohabitierenden Staatsspitzen leben müssen. Damit wurden immer wieder Reformbarrieren aufgebaut, das repräsentative System wurde unterminiert und auf internationalen Tagungen standen die Franzosen oft genug blamabel da. Europa musste das zähneknirschend ertragen.

Frankreich braucht offenbar alle paar Jahrzehnte eine tiefgehende, dramatische Staatskrise

Die ständig drohende Kohabitation prägt nicht nur die Präsidentschaften und die Regierungsarbeit, sie durchdringt auch das gesamte politische System. Mit ihren Stichwahlentscheiden in den ebenfalls zweigestuften Parlamentswahlen, die zu übertriebener Personalisierung der Parteien führt, wird das repräsentative System amerikanisiert, nur eben auf französische Weise.

Solange der „republikanische Pakt“ der großen Volksparteien hielt, konnte man Le Pen draußen halten. Nun hat sich der listige Populist die Lücken und die Erschöpfung der regierungsfähigen Parteien zu Nutze gemacht. Allzu viel kann er dabei nicht gewinnen, aber er hat es geschafft, den Erzfeind Chirac, den nun auch die Sozialisten zähneknirschend noch einmal ins Amt mittragen müssen, Frankreich ein weiteres Mal aufzuzwingen. Auch auf diese Weise kann er die ihm verhasste V. Republik in die Knie zwingen.

Wäre es einigermaßen nach Verdienst und Recht und Ordnung gegangen, wäre der einfallslose und redliche Antipopulist Jospin in den Elysée-Palast eingezogen und Chirac wäre fortgeschickt worden. Draußen warteten schon die Staatsanwälte auf ihn, um die fälligen Strafverfahren einzuleiten. Die hat er sich wegen beträchtlicher, organisierter Wahlkampfbestechungen in seiner Pariser Bürgermeisterzeit auf den Hals gezogen. Doch es gelang ihm, durch eine eigens für ihn eingerichtete Lex Chirac den Präsidenten während seiner Amtszeit immun gegen Strafverfolgung zu stellen. Dies wissend, werden ihn die Franzosen einschließlich seiner linken Gegner, die im selben Atemzug die Parlamentswahlen im Juni vorbereiten müssen, wählen müssen. Eine bizarre Konstellation. CLAUS KOCH