montagsmaler Ein bisschen rumschmücken und übertreiben
: Wilde Geschichte, echt wahr

Kennen Sie das? Man hat so seine Lieblingsselbsterlebtgeschichten, die immer wieder diesen wohlig-gruseligen, gieriges Entsetzen auskostenden Ausruf „NEIN! Das kann doch jetzt echt nicht sein!“ hervorrufen. Der Stolz darauf, kraft seiner eigenen Lebenserfahrung und seiner tollen Erzählgabe die Runde so in Begeisterung versetzt zu haben, erzeugt einen rauschhaften Zustand, der nicht selten dazu führt, noch eine solche Geschichten draufzuhauen – wenn nicht ein anderer schneller gewesen ist und nun seinerseits loserzählt.

Beliebt sind in dieser Kategorie im Allgemeinen Dienstleistungsschoten, Kindheitsmysterien und zwischenmenschliche Absurditäten, die sich in öffentlichen Verkehrsmitteln zugetragen haben. Bei älteren Jahrgängen gesellen sich oft die Genres Drogen und Wanderjahre dazu. Ich selbst habe da so ein paar Erlebnisse, an denen ich im Laufe der Jahre, hm, Jahrzehnte ein bisschen rumgeschmückt habe, was doch ganz natürlich ist, nicht wahr? Die glänzenden Augen der Zuhörer spornen einen an, die Angst, ihre Erwartung zu enttäuschen, lässt einen übertreiben. Das Erzählen eines Erlebnisses erhält eine Eigendynamik, da kommen manche Passagen unvermutet viel besser an, als man erwartet hat, da lachen sie an Stellen, die gar nicht witzig waren, und bei einem Lieblingsdetail bleiben sie merkwürdig still.

Manchmal merkt man während des Erzählens einer groß angelegten Geschichte, dass die Pointe eigentlich doch gar nicht so gut ist, und muss deshalb den Hergang farbiger gestalten. Dieser Stress bewirkt, ähnlich wie bei einem Tier, das in Todesangst flüchtet, dass man da etwas dazudichtet, was so nicht war, und das behält man dann beim nächsten Mal einfach bei. Irgendwann ist dann das Erlebnis selbst schon so weit weg, dass man selbst nicht mehr weiß, wie es war.

Eine dieser Geschichten war immer ein todsicherer Erfolg. Sie hat sich in meiner späten Jugend zugetragen. Ich war mit meinem ersten Freund nach Griechenland getrampt, und in Jugoslawien hielt eine kleine Frau an, die uns anbot, bei ihr zu übernachten. Sie machte uns Abendessen. Der Tisch war für sechs Leute gedeckt, aber es kamen keine anderen Gäste. Das war alles sehr merkwürdig, und wir aßen in einer eher gedrückten Stimmung. Plötzlich brach die Frau in Tränen aus. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Schließlich erzählte sie uns mit Fotos, Händen und Füßen, dass sie vor einem Jahr ihren Mann und ihre zwei Kinder bei einem Autounfall verloren hatte. Sie kochte aber weiterhin Tag für Tag für alle, putzte alle Zimmer, die noch so eingerichtet waren wie früher, und richtete morgens den Kindern die Schulvesper.

Die Verzweiflung kroch plötzlich aus allen Ritzen, man hätte der Frau zurufen mögen: Du musst verschwinden aus diesem Haus! Aber plötzlich wirkte sie sehr gefasst und wollte, dass wir in ihrem Eheschlafzimmer schliefen. Wir wehrten entsetzt ab, aber sie bat uns so sehr darum, und es wurde uns klar, dass sie uns deswegen mitgenommen hatte. Sie wollte jetzt allein sein, und wir verbrachten eine ungute Nacht. Am nächsten Morgen machte sie uns und ihren Kindern Vesperbrote und brachte uns zu einem Bus, der nach Zagreb fuhr.

Diese Geschichte habe ich letztes Wochenende nach langer, langer Zeit mal wieder ausgegraben; meine Güte, es war halt so eine gemütliche Runde unter Tramperveteranen. Während des Erzählens fielen mir verblüffende Parallelen zu „Dinner for one“ und zu „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll auf. Was mir aber viel zu spät auffiel, war, dass ebenjener erste Freund in der Tramperrunde dabeisaß, mit dem ich das alles erlebt hatte. Er sah mich danach merkwürdig an und sagte: „Ja. Genauso war das.“ ALMUT KLOTZ