Die Traumstraßen der Tiefebene

Alleen sind Feinde der Eile. Eindrücke auf der ersten Etappe der Deutschen Alleenstraße von Rügen nach Rheinsberg

„Von jeher schützten die grünen Korridore vor Regen, Sonne, Staub und Schnee“

von STEFAN SCHOMANN

Alleen sind die Sonntage unter den Straßen. Behaglicher, friedlicher, festlicher als die anderen, die gewöhnlichen Wege. Als konkrete Utopien laufen sie durchs Land – sie zeigen, dass Maschinen und Landschaft, Verkehr und Gefühl einander nicht ausschließen müssen. Dass Autofahren mitunter wirklich so genussvoll sein kann, wie es uns die Werbung vorgaukelt, und nicht so, wie wir es tagtäglich erleben, als Stress, Stau und hemmungslosen Verkehrsdarwinismus. Zugleich aber bilden sie ein erhebliches Sicherheitsrisiko. Fast zweitausend Autofahrer kommen in Deutschland jedes Jahr bei Baumunfällen ums Leben, die Zahl der Verletzten liegt noch um ein Vielfaches höher.

Noch in den Achtzigerjahren waren Alleen kein Thema. Im Westen nicht, weil es kaum mehr welche gab, im Osten nicht, weil das Land voll davon war, jedoch die Autos fehlten. Dann kam die Wiedervereinigung. Die Wessis reisten in die neuen Länder und entdeckten den Zauber der Landstraße: Endlose Baumreihen beschirmten die Fahrbahnen, harmonisch, heimelig und irgendwie auch vornehm. Die Ossis dagegen entdeckten den Temporausch. Sie kauften sich unverzüglich echte Autos und starteten durch. Die Unfallzahlen schnellten in die Höhe. Die Straßenbauämter rückten dem Problem auf ihre Art zu Leibe: Hunderte von Baumkilometern wurden abgeholzt.

Das Kreischen der Sägen alarmierte jedoch auch Alleenliebhaber nah und fern. Der ADAC, die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, der Deutsche Fremdenverkehrsverband, dazu Firmen, Vereine und Gemeinden – sie alle schrieben sich den Erhalt der Alleen auf die Fahnen. Als Paradebeispiel sollte eine „Deutsche Alleenstraße“ ausgewiesen werden. 1993 eröffnete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth das erste Teilstück der Touristikstraße. Mittlerweile schlängelt sie sich – wenn auch noch mit erheblichen Lücken im Westteil – über 2.566 Kilometer von Rügen bis zum Bodensee. Ein grüner Faden, der den Westen mit dem Osten und den Norden mit dem Süden verbindet, aber auch das Gestern mit dem Heute. Denn jede echte Allee wirkt als ein Zeittunnel, versetzt uns aus der Moderne in die Romantik zurück und aus dem Alter in die Kindheit.

Der erste Abschnitt von Rügen bis Rheinsberg hat sich bereits zum Klassiker gemausert. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern strotzen ohnehin nur so vor Alleen. Im flachen Norden kommen die Zweireiher auch am besten zur Geltung. Sie sind die Traumstraßen der Tiefebene – nicht auszudenken, wenn sich links und rechts nur öde Äcker dehnten. Von einem Netz grüner Kapillaren durchzogen, bildet Rügen einen einzigen Alleenpark. Rund um Putbus verlaufen einige der prächtigsten Spaliere überhaupt, unter denen die Besucher dahinrollen wie unter einem endlosen Triumphbogen. Am villengesäumten „Circus“ markiert eine Tafel den Nullpunkt der Alleenstraße. Von dieser Drehscheibe aus laufen Baumgänge kreuz und quer über die Insel, und wer sich ihnen anvertraut, findet wie von selbst auch zu ihren versteckten Attraktionen: der klassizistischen Fata Morgana des Kurtempels von Lauterbach, dem schmucken Geburtshaus des Dichters Ernst Moritz Arndt in Groß Schoritz, dem neuen Nautineum, einem Freilichtmuseum für Fischerei auf der Insel Dänholm vor Stralsund.

Auf ihrem Weg nach Süden umrundet die Alleenstraße die Mecklenburger Seen, lockt zum Streifzug durch den Müritz-Nationalpark oder zum Abstecher in die Schorfheide. Fischadler nisten in Sichtweite, Geschwader von Kranichen und Wildgänsen bevölkern die Äcker, Storchendörfer laden zum Besuch ein. Rund um Rheinsberg blinken unzählige Seen wie Spiegelscherben in der Sonne.

Die eigentliche Sensation freilich bildet die Straße selbst. Die abgedroschene Redewendung, wonach der Weg das Ziel sei – hier stimmt sie wirklich. Bewusst meidet die Route Metropolen und touristische Zentren. Stattdessen führt sie über die Dörfer. Schmiegt sich der Landschaft an, tastet sich durch über Jahrhunderte gewachsene Kulturräume. Ein Flanieren auf vier Rädern – die ungeahnten Reichtümer des Hinterlands lassen die Reise zur heimatkundlichen Lektion werden. Und wer einen ausländischen Besucher dazu anstiften möchte, Gefallen an Deutschland zu finden, sich gar ein wenig darin zu verlieben, der nehme ihn gleich mit auf die Alleenstraße. Seit alters her leiteten die grünen Korridore die Reisenden und schützten sie vor Regen, Sonne, Staub und Schnee. Zugleich hielten sie den Verkehr von der Flur fern, weil die Fuhrleute so nicht alle naslang durch die Felder kurvten. Im Rom der Renaissance beschatteten Alleen die Pilgerwege zwischen den Kirchen. In Frankreichs Gärten vollendete ihre perfekte Geometrie den Triumph der Zivilisation über die Wildnis.

Napoleon demonstrierte seine Macht dann halb Europa, indem er überall Alleen pflanzen ließ, Schnellstraßen für seine Heere. Deutschlands grüne Gewölbe finden sich natürlich nicht allein im Umkreis der Alleenstraße. Einige der berühmtesten verlaufen in Großstädten: Unter den Linden in Berlin oder auch die Puschkinallee durch den Treptower Park, deren Platanen einem jedesmal das Herz höher schlagen lassen. Die Münchner erfreuen sich an der behäbigen Würde der Auffahrtsalleen zum Schloss Nymphenburg. Weitere Prachtstücke wären die Schlossalleen von Pillnitz und Moritzburg bei Dresden, die Promenaden in Schwerin und Münster, die Linden von Baden-Baden.

„Der Tunneleffekt, der Sog der Perspektive, verführt manchenzur Raserei“

Ein lebendes Verkehrsdenkmal stellt Deutschlands einzige Autobahnallee zwischen München und Starnberg dar. Kennen Sie die duftenden Obstbaumalleen Thüringens? Die rustikalen Jagdalleen im hessischen Reinhardswald? Das Prachtstück zwischen Bad Doberan und Heiligendamm, wo Schmalspurbahn „Molli“ unter den Linden dahindampft? Oder die Doppelreihe knorriger Maulbeerbäume, die Friedrich II. im brandenburgischen Zernikow anlegen ließ? Allen gemeinsam ist die Doppelnatur von Offenheit und Grenze. In ihren lichtdurchwirkten Dämmerräumen befinden wir uns drinnen und draußen zugleich. Das gleichmäßige Vorbeihuschen der Säulen am Straßenrand macht die Fahrt zur Bewegungsmeditation. Ein Schwebezustand stellt sich ein, ein mildes Hochgefühl – und eben das kann so gefährlich werden. Denn der Stroboskopeffekt, also der rhythmische Wechsel von hell und dunkel, und der Tunneleffekt, der Sog der Perspektive, verführen manchen zur Raserei. Von den fatalen Folgen zeugt hier ein Kreuz am Straßenrand, dort ein Kranz mit einem erloschenen Namen.

Schätzungen des ADAC zufolge geht jeweils ein Drittel der Baumkollisionen auf Selbstmorde und Wildunfälle zurück. Unter den übrigen Fällen nehmen Disco-Raser und junge Amokfahrer eine Spitzenstellung ein. Aber auch einfache Fahrfehler, Alkohol am Steuer, nasse oder vereiste Fahrbahnen, aggressive Fahrweise anderer – all das trägt zu dieser grausamen Statistik bei.

Erfreulicherweise geht die Zahl der Unfälle seit einigen Jahren zurück. Das Paket aus Sicherungsmaßnahmen, Verkehrsaufklärung und Abholzung in Härtefällen scheint Erfolg zu haben. Durchgängig Tempo 80 für Alleen könnte dem Problem weiter die Spitze nehmen, ebenso ausgedehnte Überholverbote. Diese Chaussee ließe sich zur Einbahnstraße umwandeln, jene für Schwerlaster sperren. Auch mit Leitplanken, griffigerem Belag, Straßengräben und stärkerer Kurvenneigung versucht man, die Gefahren zu entschärfen. Doch letztlich wird nur ein bewussteres Verhalten eine Besserung bewirken. Genau das aber können die Alleen uns wieder lehren, gerade weil sie ein derart erhebendes Fahrerlebnis bieten. Sie machen jede Fahrt zu einer Reise. Sie bilden selbst das beste Argument dafür, unsere Eile zu zügeln.

Informationen zur Alleenstraße bei der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, Meckenheimer Allee 79,53115 Bonn, Telefon: (02 28) 65 84 62