Im Land der vielen Grenzen

Junge Menschen meiden neuerdings Busse und Straßencafés, ein Vater versteht seine Frau und seinen Sohn nicht mehr, Friedensaktivisten ringen mit der Verzweiflung: Israel und die besetzten Gebiete im April 2002. Ein Reisebericht aus einer irreal anmutenden Welt

von TSAFRIR COHEN

„Schau dir diese hässliche Fratze an“, bricht es aus dem Mund meines Vaters heraus. „Dieser hässliche Arafat ist ein Lügner.“ Sein Gesicht ist rot vor Zorn. Meine Mutter schaut mich kurz von der Seite an, bevor sie sich in die Küche zurückzieht, und ihr Blick sagt: „Hab ich dir doch gesagt, dass dein Vater sich verändert hat.“

Ich bin ein seltener Gast, und mir zuliebe wird das tägliche stundenlange Nachrichten-guck-Ritual zugunsten eines abendlichen Gesprächs auf unserer schönen Terrasse verkürzt. Vater und Sohn bei einem politischen Gespräch vor einer hinreißenden Kulisse der nordisraelischen Hügellandschaft. Am Horizont, hinter der unsichtbaren Grenze, wird nach und nach die Straßenbeleuchtung in den libanesischen Bergdörfern eingeschaltet.

Meine Eltern sind vor einigen Jahren hierher, nach Kfar Vradim – übersetzt: Rosendorf – gezogen, auf der Suche nach einem Stück gepflegtem Europa, weg vom levantinischen Trubel der israelischen Städte. Das Musterdorf hat der deutschstämmige Großindustrielle Stef Wertheimer Mitte der Achtzigerjahre hochgezogen.

Es ist eher eine prosperierende Kleinstadt kalifornischer Provenienz geworden mit einem elitären Communitygefühl, mit individuell gebauten Einfamilienhäusern, sauberen Straßen, Schwimmbad und Tennisplätzen und angeschlossenem Industriepark. Und, sagt meine Mutter stolz, die Bewohner hier sind nicht nur höflicher, sie wählen auch geschlossen links, linker als die Arbeitspartei von Außenminister Schimon Peres – nämlich Meretz, die Friedenspartei, die sich für die Errichtung eines palästinensischen Staates in den gesamten besetzten Gebieten einsetzt und bei den letzten Wahlen landesweit acht Prozent der Stimmen holte.

Doch auch bei uns hat sich ein ungewohnt rauer Ton festgesetzt. „Ich sage dir, ein palästinensischer Staat ist nur die erste Stufe in ihrem Plan“, echauffiert sich mein Vater. „Sie bestehen auf das Rückkehrrecht der Flüchtlinge nach Israel selber, um den jüdischen Charakter unseres Landes zu unterminieren“, sagt er. „Und am Ende wird der jüdische ‚Fremdkörper‘ im Nahen Osten nicht mehr vorhanden sein.“ Halb beschwörend, halb drohend sagt er, niemals würden es die Israelis akzeptieren, den Charakter Israels als jüdischen Staat verändern zu lassen. Dafür würde er auch einen bitteren Krieg bejahen. Meine Mutter, die weiterhin die israelische Besatzung für die Wurzel allen Übels hält, hatte mir zwar erzählt, dass die Abende zu Hause nur noch aus deprimierenden politischen Streitereien bestehen, doch auf solche Hardlinertöne war ich nicht vorbereitet.

Ich bin stolz auf unsere Familientradition. Mein Vater kommt aus einem einfachen Haus irakisch-jüdischer Emigranten, die ohne Hab und Gut 1950 nach Israel einwanderten. Erst durch die Kommunistische Partei Israels fand er Zugang zur modernen Gesellschaft, zu Büchern, später zum Geschichtsstudium, brachte es zum Funktionär bei der Jugendorganisation der Partei, deren zwei Slogans Frieden (mit den Nachbarn) und Gleichheit (nach innen, vor allem in Bezug auf die palästinensische Minderheit in Israel) hießen. Er wird noch immer rot vor Stolz und Verlegenheit, wenn seine Festnahme bei einer Pro-Lumumba-Demonstration angesprochen wird.

Meine Mutter ist die Tochter eines exzentrischen stalinistischen Tischlers aus Galizien, früher k. u. k., lange sowjetisch, heute Ukraine, der seine Kinder doch nicht im real existierenden Sozialismus aufwachsen sehen wollte. Sie lernte meinen Vater in einem der Jugendcamps der Partei kennen, und so ist unsere Familiengeschichte mit der Geschichte dieser als Hort linksradikaler Nestbeschmutzer verschrienen Partei unlösbar verwoben.

Längst habe ich es registriert und irgendwie akzeptiert, dass mein Vater im Laufe der Jahre den üblichen Werdegang zum Linksliberalen vollzogen hat, doch seinen jetzigen Wandel kann ich nicht nachvollziehen. Das weiß auch mein Vater, aber er will sich nicht zum Nationalisten stempeln lassen: „Ich war ja für einen palästinensischen Staat in den gesamten besetzten Gebieten und für die Räumung aller Siedlungen. Ostjerusalem und die blöden Heiligtümer sind mir egal.“ Meine Mutter setzt sich zu uns, und er weiß sich in der Minderheit. Trotzdem bleibt er hart. Barak hätte ihnen doch alles gegeben, sagt er, fast die gesamten besetzten Gebiete, für die übrigen fünf Prozent einen Landtausch mit israelischem Gebiet, dazu Ostjerusalem. „Was wollen sie noch?“, sagt mein Vater. „Versteht ihr nicht, sie wollen den Staat Israel einfach eliminieren.“

In der Mensa der Tel Aviver Universität treffe ich mich mit dem Historiker Gadi Algazi, der sich Anfang der Achtzigerjahre als erster israelischer Soldat weigerte, in den besetzten Gebieten zu dienen, und dafür ins Gefängnis ging. Ich bin etwas aufgeregt, denn ich treffe so etwas wie einen lebenden Mythos. Ich bin ihm schon einmal begegnet, damals, als er uns, einer Gruppe linker Jugendlicher, einen Besuch abstattete, um uns zur Militärdienstverweigerung zu animieren.

Algazis blasses Gesicht ermattet zusehends, als ich ihm von meinem Vater erzähle. Diese Geschichte, sagt er, hat er schon tausendfach gehört. Wie ein Lehrer, der um die Unwirksamkeit seiner Worte weiß, spricht er über das Versagen einer verantwortungslosen politischen Klasse. „Barak unterbreitete den Palästinensern doch ein für sie untragbares Angebot“, sagt er. „Mit Clintons Hilfe wurde es im Nachhinein so hingestellt, als ob die Palästinenser es waren, die keinen Frieden wollten. Dieser größten Lüge der jüngsten Geschichte ist dein Vater, fast die gesamte israelische Öffentlichkeit sowie die weltweite politische Klasse aufgesessen.“

Dieser Held meiner Jugend scheint unendlich ausgelaugt, als er fortfährt: „Und da Barak, der so genannte Linke, doch alles gegeben hat, wurden alle Ideen, die uns eine Zukunft versprachen, korrumpiert: Frieden, ein Ende der Besatzung, ein friedliches Zusammenleben.“ Das, sagt Algazi, erzeugte den Eindruck, dass es keine Hoffnung gibt, und das wiederum ist der Grund für die beispiellos niedergeschlagene Atmosphäre. Er zwingt sich, seinen Kaffee zu trinken, der über unserem Gespräch längst kalt geworden ist. Dann steht er auf und sagt: „Wir haben eine einmalige Chance verpasst und die Zukunft beschmutzt. Eine zweite kriegt man nicht immer.“

Tel Aviver Nächte sind noch immer lang. Die Cafés, die wie eine vorauseilende Friedensdividende in den Neunzigerjahren aus dem Boden schossen, sind zwar etwas ruhiger geworden, vor allem nach besonders grausamen Anschlägen. An den Wochenenden stauen sich weiterhin die Autos in den Hauptverkehrsadern um die Vergnügungsviertel. Als ich jedoch mit Bekannten, alle Ende zwanzig, ins Café gehen möchte, überlegen sie etwas zu lang, ob wir uns tatsächlich in die milde Frühlingssonne setzen sollten.

Noch ist das Verhalten aus reiner Gewohnheit wie in den Neunzigerjahren, als der Konflikt für gelöst erklärt wurde, als Drogen, Partys und das berufliche Weiterkommen die wichtigen Themen darstellten. Jetzt fehlen die Mittel zur Orientierung in der aktuellen Situation. Die zweite Intifada tobt seit anderthalb Jahren, sie ändert das Leben aller, doch mit dem Konflikt und seinen Ursachen scheint sich niemand beschäftigen zu wollen. Was bleibt, ist das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer willkürlichen Gewalt, die sich hier ein Café, dort einen Bus als Zielscheibe sucht. Die Platzsuche wird zum Bekenntnis: Darf man in diesen Tagen, obwohl es die letzten sind, in denen man die direkten Strahlen nicht scheuen muss, einfach die Sonne genießen, während an einem anderen Ort Menschen sterben?

Avi, der nach einem langen Aufenthalt in London gerade nach Israel zurückgekehrt ist, entscheidet sich für den Sonnenplatz. Er möchte nicht zurück in die Zeit, als eine pluralistische Gesellschaft weniger galt als das kollektive Ich, versinnbildlicht durch das israelische Nationalsymbol: den Sabbre – wörtlich übersetzt die Frucht des Kaktus, außen stachelig, innen süß. Das war der Inbegriff der israelischen Gesellschaft in den Aufbaujahren: ein gesunder junger Mann, der sich im Gegensatz zum Diasporajuden nach außen stark und wehrhaft gibt. Nach innen ist er dem kollektiven Aufbau einer zionistischen Gesellschaft verpflichtet, fern jeglicher dekadenter Genüsse. Avis Wunsch nach Normalität und friedlichem Nebeneinander mag in London genug sein, aber ist es das hier auch?

Später am Abend sitzen wir in einer Bar. Meine Begleiter bevorzugen ein Taxi, Busse werden streng gemieden. Drei junge Männer erlauben sich beim Hineingehen den Scherz, wie im Kinderspiel mit gestreckten Fingern lauthals zu ballern. Witze, die sogar während des Golfkrieges bejubelt wurden, finden viele nicht mehr lustig, und Diana, eine sonst recht unerschütterliche Person, erzählt, dass sie neulich daran gedacht hat, ihrer Freundin Razia vorzuschlagen, ihren Kindern doch einen anderen Schulweg vorzuschreiben, da sie gewöhnlich über eine belebte Hauptstraße laufen. „Dann habe ich gedacht: Bin ich Hellseherin? Was, wenn sich ein Terrorist eben auf dem Alternativweg in die Luft jagt!?“ Die nackte Angst hat jetzt auch Tel Aviv, die größte Normalitätsblase des Nahen Ostens, erfasst.

Auf der Fahrt von Tel Aviv ins palästinensische Dorf Charis, unweit der Siedlung Ariel. Man vergisst leicht, wie klein das Land ist. Eine Viertelstunde nachdem man mit dem Bus die Vorstädte Tel Avivs verlassen hat, erreicht man die besetzten Gebiete. An der Grenze ist nur ein einfacher Kontrollposten zu sehen, wir werden nicht kontrolliert. Die auf konfisziertem Land gebaute vierspurige Autobahn, auf der wir fahren, ist nur für israelische Autos zugelassen. Sie verbindet die hoch gesicherten Siedlungen in dieser Gegend mit dem israelischen Mutterland. Ich steige am Siedlungseingang aus und rufe wie verabredet meine Kontaktperson an.

Den bisherigen Weg zu bewältigen war kinderleicht, und ich fange an, mich über Freunde und Kollegen zu wundern, die mich eindringlich darum baten, nicht hierher zu fahren. Die israelische Regierung verbietet ihren Staatsbürgern strengstens, die von den palästinensischen Behörden „beherrschten“ Gebiete zu betreten, aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Dann begreife ich instinktiv die Gefahr dieses Ortes: Nirgends steht, was erlaubt ist und was nicht. Mitten in dieser lieblichen Landschaft sterben täglich Menschen, nur weil sie eine unsichtbare Grenze nicht erkannt haben. Die Armee, die Siedler, die Terroristen – allen fällt das Schießen leicht.

Nawaf Souf, der mich abholt, ist ein Veteran der ersten – von 1987 bis 1993 dauernden – Intifada, PLO-Mitglied, ein Funktionär der palästinensischen Behörde. Seine Generation, die der Vierzigjährigen, führt heute das palästinensische Volk. Nawaf verbrachte vierzehn Jahre im israelischen Gefängnis, dort hat er sein perfektes Hebräisch und seine ausgezeichneten Kenntnisse der israelischen Gesellschaft her. In Charis genießt er den Ruf eines Helden.

Wir müssen die letzten Schritte zum Dorf zu Fuß gehen, da die Armee die Zufahrtstraße zugeschüttet hat, schon vor anderthalb Jahren. Nawaf zeigt auf den Horizont. Von allen Seiten ist seine Heimat von israelischen Siedlungen umgeben, prächtige Häuser, auf den Hügelgipfeln errichtete Trutzburgen. „Hast du die Siedlung auf dem Weg hierher gesehen?“, fragt er. „Das ist der größte Industriepark Israels. Und Ariel auf der anderen Seite hat sich ununterbrochen, auch unter Rabin und Barak, enorm entwickelt.“ Im Dorf zeigt mir Nawaf das Haus seiner Eltern und erzählt von seinen Kindheitserinnerungen, als die israelischen Soldaten 1967 seinen Vater verhafteten und er gebrochen zurückkam, von den langen Jahren der Besetzung mit ihren bis ins kleinste Alltagsdetail eindringenden administrativen Unterdrückungsmechanismen.

Charis ist eine Ansammlung von einfachen Häusern, eingebettet in Jahrhunderte alte Olivenhaine. Bis auf die Angestellten der Autonomiebehörde sind hier fast alle arbeitslos, die Landwirtschaft liegt brach, da es lebensgefährlich ist, die Felder zu bestellen, die Transportkosten sind bei so vielen Kontrollen und Sperren so teuer, dass sie mit israelischen Produkten nicht mehr konkurrieren können. Als wir Nawafs karges, unbeheiztes Haus betreten, begrüßt uns sein Bruder Issa. Issa wurde im Mai vorigen Jahres vor dem Haus angeschossen, als er die Kinder in Sicherheit bringen wollte. Ein Dumdumgeschoss traf sein Rückgrat. Die Armee hat sich entschuldigt und versprach eine Untersuchung, doch seitdem haben sie sich nicht mehr gemeldet. Issa, gelähmt, sitzt im Rollstuhl. Da das Dorf keine Zufahrt mehr hat, muss er bis zur Straße getragen werden, wenn er ins Krankenhaus gebracht werden soll.

Ich spreche Nawaf auf die jüngere Generation an, die Sechzehn- und Zwanzigjährigen, diejenigen, die die jetzige Intifada tragen. Nawaf redet nicht gern darüber. Als ob jeder Dissens dem Befreiungskampf die Kraft entziehen würde. „Diese Generation kennt die israelische Gesellschaft kaum“, sagt er schließlich. „Wir wurden ja in den letzten Jahren aus Israel ausgesperrt. Nicht einmal Hebräisch können sie.“ Erlebt hätten sie nur die Okkupation und einen versprochenen Frieden, der keiner war. Die große Versöhnung, die versprochene Räumung von Siedlungen – all das ist ausgeblieben. Stattdessen wurden jahrein, jahraus die Olivenbäume gefällt, das dem Dorf gehörende Land konfisziert, die Siedlungen weiter ausgebaut. Auf die Frage, ob für diese Generation ein Frieden noch vorstellbar sei, weicht Nawaf aus. Wieder blickt er auf seinen einjährigen Sohn: „Die Wunden, die allen zugefügt wurden, werden nie wirklich heilen“, sagt er.

Zurück in Tel Aviv lädt mich Benny Ziffer, Feuilletonchef von Ha’aretz, der einzigen Qualitätszeitung Israels, zu einem Essen in sein Haus im beschaulichen Vorort Ra’anana ein. Bei Benny und Irit trifft sich eine erlauchte Runde, Schriftsteller, Kritiker, Verleger, Akademiker. Wir essen einen fantastischen Fischauflauf, trinken Krimsekt und hören den wunderbaren Anekdoten eines alten Bayreuther Juden zu, dessen Vater den Kartenverkauf für die Bayreuther Festspiele exklusiv organisierte. Eskapismus? Ich bin dankbar für diese ersten und letzten Stunden während meines einmonatigen Besuches in Israel, in dem der zermürbende Konflikt nicht die Hauptrolle spielt.

Mohammed Baraky, Knessetmitglied für die Kommunistische Partei, führt mich auf seinen Balkon, von wo aus wir ganz Schfar’am, eine arabische Kleinstadt im Norden Israels, sehen können. Er zeigt auf einen Punkt hinter dem Horizont: „Zehn Kilometer von hier lag Safuri, die größte Siedlung in Galiläa, größer noch als Nazareth. Da kommen meine Eltern her.“

1948 wurde das Dorf zerstört, während des Unabhängigkeitskriegs, wie die Israelis sagen; während der Nakba (arabisch: „die Katastrophe“), wie Baraky sagt. „Unser Land wurde konfisziert, der Ortsname hebraisiert und israelische Dörfer darauf gebaut“, sagt er. „Viele der Bewohner flohen in den Libanon und versuchten immer wieder zurückzukehren. Aber jedes Mal wurden sie aufs Neue mit LKWs zurück in den Libanon verfrachtet.“

Nur eine Minderheit blieb in dem neu gegründeten jüdischen Staat zurück, vor allem in Galiläa, im Norden des Landes. Was für beide Seiten zuerst als Provisorium erschien – die Israelis hofften, dass die Araber irgendwann das Land verlassen, die Araber, dass Israel verschwindet –, wurde mit den Jahren zu einem festen Bestandteil der israelischen Gesellschaft, den beide Seiten anerkannten: Es gibt in Israel eine arabische Minderheit. Diese Minderheit musste schon immer einen Seiltanz vollbringen: Palästinenser und zugleich Israeli sein.

Baraky, auch er Mitte vierzig, ist stolz darauf, dass „wir bei Verstand geblieben sind“. Das konnte nur passieren, sagt er, „weil wir zwei ungleiche Ziele verfolgt haben: einerseits Frieden als Bekenntnis zum palästinensischen Volk und zu seinem Recht auf Eigenstaatlichkeit, andererseits Gleichheit als Bekenntnis zum Kampf für die Gleichberechtigung im Staat Israel, dessen Bürger wir bleiben werden“.

Frieden und Gleichheit. Baraky klingt müde, als er den Slogan noch einmal wiederholt. Zurück bleibt das Gefühl, dass etwas Wesentliches schief gegangen sein muss, wenn bei einem solchen Vollblutpolitiker schiere Verzweiflung durchscheint. Die letzten Knessetwahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Islambrüderschaft bekam so viele Stimmen wie die traditionelle Vertreterin der arabischen Minderheit, die Kommunistische Partei. Der Einfluss der Religiösen ist noch stärker als diese Zahlen aussagen, der Zulauf, zumal der Jugend, ist enorm.

Auch Sayed Qashu, der gerade mit seinem in Hebräisch geschriebenen Roman „Tanzende Araber“ zum jungen Shooting Star des israelischen Buchmarktes wird, kann die beiden Identitätsstränge nicht mehr zusammenbringen. „Ich schäme mich heutzutage, über Gleichberechtigung zu sprechen, während die in den besetzten Gebieten um ihr Leben kämpfen“, sagt er.

Qashu, der „Musteraraber“, der hebräisch schreibt, auf ein israelisch-jüdisches Internat ging und heute im israelischen Teil des Großraums Jerusalem lebt, hat alles, woran es der arabischen Minderheit in Israel mangelt: Erfolg, Anerkennung, eine Lebensgrundlage.

Sein Buch verkauft sich gut, er wird in den Medien hofiert, ihm wurde eine eigene Zeitungskolumne angeboten. Doch wer einen glücklichen jungen Mann erwartet, findet einen Verzweifelten vor, dem während des Gesprächs immer wieder Wuttränen in die Augen schießen.

Zurück in die bäuerliche Gegenwart der Palästinenser kann Qashu nicht mehr. „Aber ein Sabbre kann ich auch nie werden“, sagt er, „ich bin doch die fünfte Kolonne, und das wird immer wieder hochkommen.“ 35 Prozent der Israelis sind für einen Transfer aller Palästinenser. Sogar die Linke, sagt Quashu, spricht inzwischen über „das demografische Problem“, die Furcht nämlich, die israelischen Palästinenser und die Palästinenser in den besetzten Gebieten könnten in Zukunft die Bevölkerungsmehrheit in Israel stellen. In dieser Situation „sind wir entweder Israelis oder Palästinenser“.

Ob Berlin eine lebenswerte Stadt sei, fragt er mich, als ich mich verabschiede. Ich schäme mich, als ich die Frage mit Ja beantworte.

TSAFRIR COHEN, 35, ist freier Journalist. Er wuchs in Israel und Kanada auf und lebt seit 1986 als Autor und Essayist in Berlin