Der Barrikaden-Tauber

Die größten Hits der 20er-, 30er- und 40er-Jahre! Eine Annäherung an Ernst Busch und die musikalische Sozialisation in der DDR

von ANDREAS GLÄSER

Leider hat mir meine Direktorin während der Schulzeit das Hören von Ernst-Busch-Schallplatten unmöglich gemacht. Wenn es die Bildungsministerin von ihr verlangt hätte, so hätte sie wohl auch ihre sozialdemokratischen Geschwister erschossen. Wir hatten bei ihr eigentlich nur Staatssicherheit, wie ich mich immer richtig verplapperte, also Staatsbürgerkunde. Zum Glück musste ich für dieses Pflichtfach nur ein wenig fantasieren, wie schlimm es in der BRD wäre, und dann als Gegenüberstellung, der wahrgewordene Traum der Menschheit, die DDR. In all den Jahren verschwieg ich die Pflicht, das Loblied auf die DDR, und spezialisierte mich auf die Kür, die Verdammung der Bundesrepublik. Ich bekam immer eine 3.

Unsere Direktorin gab, wenn eine sympathischere Lehrerin wegen übermäßigem Alkoholgenuss krankgeschrieben war, eine Vertretungsstunde. Die pathetische Altlast spielte mit glänzenden Augen die Schallplatten von Ernst Busch, dem Barrikaden-Tauber. Der westdeutsche Pläne-Verlag hatte sie seinen Brüdern und Schwestern im Osten zugänglich gemacht. Dabei gab es auch in der DDR poppige Lizenz-Schallplatten. Die hätte sie ruhig aus ihrer Beziehungskiste hervorzaubern können. Aufgrund ihrer ideologischen Vorbelastung machte sie es mir unmöglich, mich mit Busch ernsthaft auseinanderzusetzen. Dabei hatten seine Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg und die der deutschen Arbeiterklasse jede Menge Herz und Verstand.

Mir mangelte es ja weder am festen Klassenstandpunkt, noch am feurigen Patriotismus. Ob diese Angehörige der Intelligenz von derart starken Charakterzügen geprägt war, wagte ich zu bezweifeln. Außerdem war ich sogar auf der Seite der Lehrerinnen, die nicht nur Wasser predigten, sondern auch Wein tranken. Mitunter schickte eine Pädagogin einen Schüler in die Kaufhalle. Das war ein echter Vertrauensbeweis. Manchmal gab es eben einen Grund zum feiern. Die stalinistische Wegelagerin lauerte im Treppenhaus der Schule. Sie war unfähig, uns die Musik von Ernst Busch zu vermitteln.

Jahre später habe ich die Platten auf der allmonatlichen Schallplattenbörse im Statthaus Böcklerpark gekauft. Abgegriffene Exemplare zu hochwertigen Preisen. Lieder der deutschen Arbeiterklasse, Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg. Der ehemalige Besitzer hatte anscheinend alle Aktivisten, die er auf einem Treffen kennengelernt hatte, auf den Covern unterschreiben lassen. Das Lied vom Sechstagerennen war ohnehin nicht dabei. Ich lernte es flüchtig kennen, als die Abendschau vom Radsport berichtete. Sonst brachten sie zu einer derartigen Gelegenheit immer den Sportpalast-Walzer. Doch einmal unterlegten sie ihren Bericht mit Ernst Buschs Ohrwurm, den es wahrscheinlich nur auf diversen 40-Mark-CDs gab. Vielleicht würden die Preise bald fallen, konnte ja sein.

Neue Zeiten, neue Regierung. Rot-Rot. Das hörte sich nach Enteignungen an. Aus vorauseilendem Gehorsam pilgerten Susanne, Emil und ich Mitte Januar zur Friedhofsgedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde. Immerhin wurden an jedem dritten Sonntag im Januar Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geehrt. Da wollte ich schon immer einmal hin, aber früher kannte ich noch keine PDS-Aktivistin, die mich an einem Sonntagmorgen aus dem Bett schubste. Oft habe ich das auch einfach vergessen. Wer wollte sich schon mit dem Hickhack zwischen den Sozialdemokraten und den Kommunisten in den 10er- und 20er-Jahren abgeben?

Angesagt war jedenfalls die Zeit zwischen 9 bis 13 Uhr. Und hell bleiben würde es sowieso 3 Stunden länger. Nach dem Frühstück packten wir das Baby ein. Vor dem Abschließen der Wohnungstür sah ich schnell in den Korridorspiegel, ob das Zahnpasta-Hitler-Bärtchen ab wäre. Ja, also ab zur Gedenkstätte. Auf dem S-Bahnhof verkaufte ein fliegender Bierbüchsenhändler rote Nelken für 2 Euro die Blüte. Ein bisschen Sozialismus war ziemlich teuer. Wir also hin, den abwandernden 100.000 Rot-Roten entgegen. Mit dem Kinderwagen mittendurch, da machten sie Platz. Wir spalteten die Roten, als ob sie das nicht selber gekonnt hätten. Hier und da träumte die Polizei deeskalierend vor sich hin. Wahrscheinlich eine neue Order. Es war ein schöner Familienausflug mit Blumenhinlegen. Ein wenig Besinnung vor dem großen Winterschlussschmus.

Auf dem Rückweg begegneten wir einem Struwelpeter mit einer Schallplatte unter dem Arm. Ich verrenkte meinen Kopf und las: „Ernst Busch – Der Barrikaden-Tauber. In Originalaufnahmen aus den Dreißigerjahren.“ Das Cover kannte ich nicht. War es die viel gesuchte Schallplatte, die anlässlich der SED-Gründung heraus kam? Die LP mit der KPD-Verherrlichung auf der A-Seite und der SPD-Verteufelung auf der B-Seite? Wer hatte die schon? Ich fragte ihn, ob ich mir diese LP für einen unbedeutenden Augenblick der Menschheitsgeschichte ansehen dürfte. Eine echte Vertrauenssache. Wer wollte schon ein abgegriffenes Cover? Zögern sagte er: „Natürlich.“ Wir waren Klassenbrüder. Unglaublich! „Das Lied vom Schlarafffenland“, „Der Marsch ins Dritte Reich“ und: „Sechstagerennen!“

Mir wurde verraten, dass „Nur auf die Minute kommt es an“ auch drauf wäre. Aufgenommen von verschollen geglaubten Schellacks. „Gibt’s am KPD-Stand, neben der Schalmeienkapelle da hinten. Und nur noch 50 Stück von 1.000 Limitierten, in rotem Vinyl. Sonderauflage.“ „Danke!“ Waren wir nicht schon am KPD-Stand vorbei spaziert? Also dann, zurück in die Vergangenheit. Dort sah ich zwischen dem Papierkram und den CDs keine Schallplatte. Wahrscheinlich war der Aktivist gerade beim zusammenräumen. Aus einem Karton lugte eine LP hervor. „Hallo. Ick will die Platte da.“ Er sah mich verschwörerisch an und sprach: „Davon gibt’s nur 1.000 Exemplare. 50 sind noch da. ‚Nur auf die Minute kommt es an.‘ Sonderauflage. Originalaufnahmen aus den Dreißigerjahren. 10 Euro.“

Klare Sache. Das Cover wirkte zwar ein wenig abgegriffen, aber immerhin. Auf dem matschigen Platz zwischen der Gedenkstätte und der Zufahrtsstraße, spielte eine Schalmeienkapelle das Lied vom kleinen Trompeter. Es war Erich Honeckers Lieblingslied. Wie zum Hohn trug jemand ein Plakat mit einer Honecker-Parole spazieren. Dieses Zitat war für den Klassenkampf so brauchbar, wie Erich Honeckers Abschiedsworte Ende der Siebziger- oder Anfang der Achzigerjahre auf dem Greifswalder Bahnhof, als er Helmut mit den Worten verabschiedete: „Herr Schmidt, hier hab ich in meiner Jackentasche noch einen Bonbon gefunden, den geb ich ihnen. Gute Heimreise.“