vorlesungskritik Adorno gestern und heute: Ein Vortrag in der Urania
: Mehr Bier

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Dieser Sinnspruch ziert mittlerweile Kaffeetassen, T-Shirts und Wandteller. Gerne wird dabei kalauernd das „falsche“ mit v geschrieben. Was mancher am Frühstückstisch sinnierende Kaffeetrinker jedoch nicht ahnen wird: Das Zitat – in der orthografisch richtigen Schreibweise – stammt von Theodor W. Adorno. Doch das ist noch nicht alles. Adorno hat auch noch Recht. Denn das Ausmaß der gesellschaftlichen Fremdbestimmung ist in der modernen Industriegesellschaft so groß, dass dem Individuum überhaupt kein Handlungsspielraum mehr bleibt. Da kann auch der Freund der Weisheit auf die Frage nach der angemessenen Lebensweise oftmals nur die Achseln zucken.

Genau dies tat unlängst Norbert Kapferer, Philosophieprofessor der Universität Breslau, angesichts des abendlichen Urania-Publikums. Der gewiefte Hochschuldidaktiker, angetreten in cremefarbenem Sakko und schwarzem Rollkragenpulli, hatte auch gleich ein Fallbeispiel parat, das dem Auditorium auf der gedanklichen Augenhöhe des Eckkneipen-Alltags die Problematik verdeutlichte: „Man trinkt ein Bier. Der Durst bleibt. Da fragt der Wirt freundlich: Noch eins!?“ Jetzt kommt’s: „Dann drängt sich ins Bewusstsein, dass die Freundlichkeit des Wirts nur Illusion ist. Hinter ihrer Maske verbirgt sich der kapitalistische Verwertungszyklus.“ Auch das kühle Blonde ist nur eine Ware: „Deren Fetischcharakter wäre man beinahe mal wieder aufgesessen. Jetzt denkt man auch noch an Adorno: kein richtiges Leben im falschen. Was soll man tun!?“

Doch keine Angst, die Kehle des Philosophen blieb nicht trocken: „Man vergisst das Problem erst mal und bestellt noch ein Bier.“ Adornos hier verdrängte Einsicht in die Ausweglosigkeit des modernen Daseins stehe beispielhaft für den pessimistischen Grundton seines gesamten Lebenswerks, so Kapferer. Und spannte den Bogen von den Anfängen des jungen Philosophen am von Max Horkheimer geleiteten Frankfurter Institut für Sozialforschung über die Jahre der Emigration in England und Amerika während des Dritten Reiches bis zur anschließenden Rückkehr in die Bundesrepublik.

Kurz nach dem Kriege sei in Zusammenarbeit mit Horkheimer das berühmte Werk über die „Dialektik der Aufklärung“ entstanden. Nicht nur der europäische Faschismus, sondern auch die in den USA erfahrene Machtlosigkeit des Intellektuellen in der kapitalistischen Marktwirtschaft habe den 1903 als Sohn eines Weingroßhändlers geborenen Philosoph am vernunftgeleiteten Aufklärungsprozess zweifeln lassen. Kapferer empfahl den Schmöker auch gleich zur Lektüre: „Einfacher zu verstehen als der Rest – dank Horkheimers Einfluss …“

In den übrigen Schriften erweise sich Adorno als eine der härtesten Zumutungen der deutschen Philosophie nach Hegel und Heidegger. Das aber nicht ohne Grund. Adorno habe sich immer damit verteidigt, dem Leser bewusst etwas zuzumuten und ihn gerade dadurch ernst zu nehmen. Auch Kapferer nahm das Urania-Publikum übrigens in diesem Sinne ernst, denn die ohne viel Pathos präsentierte Tour d‘’orizon durch Leben und Werk Adornos verweilte nur kurz an den einzelnen Stationen. Wie die anschließende Diskussion zeigte, vermissten die Anwesenden deswegen umso heftiger eine etwas ausführlichere Antwort auf die Frage: Wie soll man denn nun leben?

Tja, die gesellschaftliche Realität sei so komplex, belehrte daraufhin Kapferer, dass Philosophie im Sinne Adornos hier ehrlicherweise gar keine Antwort mehr geben könne. Handeln bedeute immer „stillschweigendes Akzeptieren des Gegebenen“. Andererseits gelte aber genauso: Wer nichts macht, verstrickt sich auch. Na dann: Prost!

ANSGAR WARNER