Bildung, Dialog und Gegenöffentlichkeit

Die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi setzt auf die Zivilgesellschaft im Lande – den Westen will sie über die Potenziale des Islam aufklären

von SEMIRAN KAYA

Schwarze Kopftücher und verschleierte Frauen sind die Bilder, die uns nach wie vor meist von muslimischen Frauen in den arabischen Ländern präsentiert werden. Dass es Feministinnen und Akademikerinnen gibt, die farbenfroh und ohne Kopftuch zum Alltag der islamischen Welt gehören, wird schnell übersehen. Eine von ihnen ist die renommierte Soziologin Fatima Mernissi aus Marokko, eine Kulturvermittlerin par excellence.

Eigentlich liebt es die arabische „Powerfrau“ nicht, sich lange im Ausland aufzuhalten. Dennoch ist die 61-jährige Professorin, die an der Universität Mohammed V, in Rabat lehrt, mehr im Ausland als zu Hause anzutreffen. Durch ihre soziologischen und historischen Studien zum Verhältnis von Mann und Frau in Marokko und der arabischen Welt wurde sie international bekannt.

Der politische Harem

Mit ihrem ersten Roman, „Der politische Harem“, wurde sie auch in Deutschland bekannt. Eine Innensicht des Harems, mit dessen idealisiertem Bild Mernissi durch autobiografische Geschichten – sie lebte als Kind selbst im Harem – aufräumt und dabei die politischen Dimensionen anhand der Originalquellen beleuchtet.

Die Politik der Fünfzigerjahre in ihrer Heimatstadt Fes hat sie geprägt: „Eine großartige muslimische und avantgardistische Stadt. Das Zentrum Fes war wie der Feminismus, in den ich geboren wurde. Auch wenn Marokko wie andere islamische Länder von Nationalisten ergriffen und durchsetzt war, wollte man vom Westen anerkannt werden. Also setzte man auf die Frauenbildung. Die Mullahs selbst erzählten und lehrten uns Mädchen, dass Aischa sich nicht verschleiert habe, weil Allah ihr dieses schöne Gesicht gegeben habe.“

Diese für Mernissi so „ungewöhlich feministische Stadt“ sollte in ihr die Überzeugung prägen, dass die Religion nicht von der Macht der Frauen zu trennen ist. Schließlich waren es gerade die Mullahs, die die Wichtigkeit der Frauen in der Gesellschaft stärkten, meint die Frauenrechtlerin. Der Feminismus kam für die Beraterin der Unesco zur Situation muslimischer Frauen nicht in Amerika oder Frankreich auf, sondern „in dem Brot der nationalistischen Bewegung“ ihrer Generation.

Mernissi will mit ihren Studien und Büchern beweisen, dass der Feminismus nicht nur eine westliche Entdeckung ist. Sie will den Dialog der islamischen und westlichen Kulturen sensibilisieren und erfolgreich umsetzen. Zu einer ihrer Gepflogenheiten gehört daher die Einladung zu sich nach Hause. So könnten im direkten Austausch Kultur und Realität islamischer Länder erfahren und erlebt werden, meint sie. „Erfolg habe ich nicht, wenn ich der Presse nur mitteile, wann ich mich wo aufhalte.“

Konflikte mag die Soziologin nicht – die sind ihr zu energie- und zeitraubend. Schon als Studentin wurde ihr bewusst, dass sie strategisch vorgehen musste. Eine Herangehensweise, die ihr manchmal zum Vorwurf gemacht wird. Sie selbst ist davon fasziniert: „Ich liebe die Strategie, vor allem die long-time strategy.

Um Marokko legal verlassen zu dürfen, ging Mernissi Mitte der Sechzigerjahre als Au-pair-Mädchen nach England, lernte dort ein Jahr die Sprache, entschied sich für Paris, entdeckte die Sorbonne und die Soziologie für sich, arbeitete als Tellerwäscherin und Frisörgehilfin – und wurde enttäuscht: „Die Soziologie wurde hier lediglich in Räumen gelehrt.“

Das Studium hatte sie beendet, jedoch nicht abgeschlossen, da brach die 68er-Revolution aus: „Meine Freunde waren Revolutionäre, ich aber durfte als Ausländerin nicht entdeckt werden, weil man mich wegen des Algerienkriegs sonst zurückgeschickt hätte.“ Erneut ging sie strategisch vor. Diesmal in den USA – auch wieder als Au-pair-Mädchen. Hier fand sie die „bessere“, sprich realistischere Forschung, lernte die Techniken der Soziologie und bekam ein Stipendium.

Islam als Weltvision

Als sie später erfuhr, dass das Zentrum der Revolution Paris gewesen sei, fragte sie sich: „Für wen war denn diese Revolution? Nicht für mich, nein“, betont sie energisch und ergänzt: „Für mich agierte noch immer der Polizeistaat. Erst allmählich begriff ich, dass die Revolution nur bestimmten Menschen vorbehalten war.“

Heute lebt Mernissi getreu dem Laotse-Motto, dass nur der ein Freund ist, der für einen selbst und seine Interessen gut ist. Eine praktizierende Muslimin ist sie nicht, aber den Islam als Kultur, als Weltvision liebt und lebt sie. Eine seiner verblüffenden Seiten sei die kulturübergreifende Annäherung und der offene Zugang zu anderen Menschen. „Schon Mohammed hat den Universalismus entdeckt, den nicht mal der Westen kennt. Einfach genial, diese Idee! Denn wenn man Werte teilen kann, spielen Hautfarbe, Nationalität oder Religion keine Rolle mehr.“

Mernissi, die aus einer Familie von Großgrundbesitzern kommt, die bis heute zentrale Ämter und Funktionen in Marokko innehaben, setzt sich für eine soziokulturelle Bewegung im bildungspolitischen Bereich ein. Neben ihrer Beratertätigkeit für internationale Organisationen wie Weltbank und UNO engagiert sie sich in und für eine Vielzahl von Vereinen, Zeitschriften und Interessenverbände, verhilft Frauen zum Durchbruch ihrer Arbeiten, schreibt für dutzende das Vorwort, unterstützt mit ihrem Namen kleine und große Aktionen oder Organisationen, die alle ein bildungspolitisches Ziel haben. Um eine Umwandlung der politischen Kultur durch Wissen zu erreichen, gründete sie Literaturwerkstätten, in denen Frauen an der Demokratisierung der Gesellschaft teilnehmen können. Selbstbewusste Bürger heranzuziehen, damit eine Zivilgesellschaft funktionieren kann, ist eine Aufgabe, die sie als ihre eigene sieht. Jeden neuen Kontakt nutzt Mernissi, um sich mit Frauen aus der ganzen Welt zu vernetzen und ihr Ziel zu erreichen: eine politische Gegenöffentlichkeit, die ihre gewonnenen Freiräume selbst verteidigt.

Mit all diesen Kontakten schafft sich Mernissi eine eigene „Freundschaftsfamilie“, die sie in ihr persönliches Leben oder ihre politische Arbeit einbezieht. Gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrer Schwester trifft sie sich außerdem alle zwei Wochen mit allen Nichten und Neffen bei ihrer 85-jährigen Mutter. Man isst, man lacht, man unterhält sich.

Auch wenn Mernissi auf vielen Hochzeiten gleichzeitig tanzt und gelegentlich gern rosa malt – man muss anerkennen, dass sie eine der großen Frauen und wichtigsten Katalysatoren der soziokulturellen Bewegung in Marokko ist, durch deren Bücher und Wirken auch wir im Westen einen anderen Blick auf Wissenschaft, Frauenforschung und den Islam bekommen.

Schleier der Geschichte

Mernissi versucht die Denkstrukturen der Gesellschaft aufzubrechen, indem sie den Schleier der Geschichte lüftet. In all ihren Büchern verknüpfen sich Politik und Religion. Um diese Verknüpfung aufzuzeigen, setzt Mernissi, wie andere islamische Feminstinnen auch, bei den Quellen des Islam an: der Unterscheidung von Text und Interpretation, von ursprünglicher Offenbarung und späterer Auslegung. Sie nutzt die Kommentare und Methoden der islamischen Religionswissenschaft, um mit einer neuen Interpretation zu einer „frauenfreundlichen“ Praxis zu gelangen: „Das Sprichwort ‚Durch stille Weisheit gelangt man zu einer größeren Weisheit‘ kann und darf nicht mehr gelten. Um diesen schrecklichen Irrglauben zu entkräften, setzte ich die erste Offenbarung Gottes an Mohammed entgegen, die da lautet: Lies!“

Weil also für Mernissi der Islam mit der Aufforderung, zu lesen und sich zu informieren, begann, kämpft sie schreibend für eine gerechte Verteilung von Macht und Wissen. Ihre Strategie wird deutlich: Bildung, Dialog, Gegenöffentlichkeit.

„Eine neue Generation von Frauen ist herangewachsen, die Expertinnen der Soziologie und der Scharia sind. Deshalb schreibe ich seit 1996 nicht mehr über Frauen. Meine neuen Forschungen widmen sich den NGOs und der sich formierenden Zivilgesellschaft in Marokko.“

Als Mernissi einem Kadi erzählte, dass Frauen aus dem Maghreb auf der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 die Abschaffung der Polygamie fordern würden, lamentierte der: „Papas Harem wird zu Mamas ziviler Gesellschaft.“ Denn mit „ziviler Gesellschaft“ verbinde er ein Chaos, in dem Frauen laut reden. Genau diesen Titel benutzte Mernissi später für eine Vorlesungsreihe in Europa und den USA, um das homogene Bild der islamischen Gesellschaften aufzubrechen.