McPapiertiger

Wie die Bankgesellschaft Berlin ist die Herlitz AG die Fortsetzung des Systems Westberlin in der Nachwendezeit gewesen. Nun stirbt Westberlin endgültig. Drei Gründe, warum man darüber nicht trauern sollte – und ein Vorschlag

von UWE RADA

Der Kalte Krieg

Die Firma Herlitz hat viele Gründungsdaten. Eines davon ist das Jahr 1904. Damals gründete Carl Herlitz im beschaulichen Wilmersdorf eine Papier- und Schreibwarenhandlung, die alsbald wuchs und gedieh. Dass sie nun, da die Herlitz AG in die Insolvenz geht, auf ihren hundertsten Geburtstag in zwei Jahren verzichten muss, hat mit Carl Herlitz allerdings wenig zu tun, mit dem späteren Firmenchef Peter Herlitz dagegen umso mehr. Peter Herlitz steht für eine Gründerzeit, die noch zu Frontstadtzeiten in den Achtzigerjahren begann. Damals überzog der inzwischen zum Monopolisten herangewachsene Konzern das Gebiet der alliierten Westsektoren mit einer Ladenkette, deren Name geradezu Programm war. McPaper war fortan das Berliner Synonym für Schulhefte, Schulranzen und Bleistifte. Westberlin demonstrierte mit Peter Herlitz Solidarität mit der amerikanischen Besatzungsmacht und zerstörte zugleich die alteingesessenen Schreibwarenhändler.

Das eigentliche Gründungsdatum von Herlitz liegt aber zwischen diesen beiden Ereignissen. Unter dem Eindruck der Berlin-Blockade von 1948 und dem Arbeiteraufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 beschloss Carl Herlitz, trotzig die Westberliner Freiheit zu verteidigen, und begann neben der Distribution auch mit der Produktion von Schreibwaren. Dieser Entschlossenheit ist es wohl zu verdanken, dass Westberlin nach dem 13. August 1961 eine autarke Bleistiftproduktion besaß und kein Schulkind zwischen Reinickendorf und Lichtenrade auf westliche Staatsbürgerkunde verzichten musste.

Dann kam der 9. November 1989 und mit ihm das Schaufenster des Westens endlich nach Ostberlin. Dort hatte man die östliche Staatsbürgerkunde gerade abgeschafft und durch die Leere von der freien Marktwirtschaft ersetzt. Umso erstaunlicher war es für die Pioniere des Ostberliner Einzelhandels, mit ansehen zu müssen, dass sie es zumindest auf dem Schreibwarenmarkt erneut mit einem Monopolisten zu tun bekamen. Entweder man verkaufte seine Schreibblöcke unter dem Label McPaper oder man ließ es bleiben.

Das Immobiliengeschäft

Bald darauf schon war Herlitz nicht nur zur Metapher für Schulhefte geworden, sondern sogar für ganze Gartenstädte. Herlitz-Siedlung Falkenhöh nannte man westlich von Spandau alsbald eine neue Siedlung mit 1.400 Wohnungen. Städtebau und Bleistiftproduktion waren dort eine Liaison eingegangen, weil neben dem neuen 350 Millionen Mark teuren Logistikzentrum, das Herlitz in Falkensee baute, plötzlich noch ein Grundstück frei war.

Das gehörte dem ehemaligen Tierproduktionskombinat „Frischeier, Broiler, Schweinemast“ und wurde von der Treuhand bis dato vergeblich zum Kauf angeboten. Doch dann kam Peter Herlitz. Ehrlicher wäre es gewesen, die Gartenstadt nicht Falkenhöh, sondern gleich McPaper zu nennen.

Einmal Immobilien, immer Immobilien. Was für die Bankgesellschaft Berlin recht war, konnte Peter Herlitz nur billig sein. Kaum war die verbrämte McPaper-Stadt fertig gestellt, machte sich der Westberliner Bleistiftmonopolist an das nächste Immobilienprojekt. Diesmal war es der Ausbau der alten Borsighallen in Tegel – auch so ein Westberliner Symbol – zu einem modernen Shopping- und Bürozentrum. Gut 850 Millionen Mark kostete Herlitz das ambitionierte Projekt nach den Plänen von Claude Vasconi, in dem auch die Firma Herlitz ihren neuen Sitz finden sollte. In Westberlin, das galt auch noch acht Jahre nach dem Fall der Mauer, war nichts zu teuer, wenn es nur darum ging, Berliner Industrielandschaften mit der architektonischen Eleganz von Paris zu vereinen.

Doch Hochmut kommt, vor allem an der Spree, bekanntlich vor dem Fall. Falkenhöh und Borsig, das war zu viel. Noch vor dem Fall der Bankgesellschaft wurde Herlitz zu einem der ersten Opfer der Berliner Bubble Economy. Zwei Jahre nach Baubeginn bei Borsig musste die Herlitz AG ihre Immobiliensparte an die Firma RSE-Projektemanagement, eine Tochter der Commerzbank, verkaufen.

Das Osteuropageschäft

Es müssen die existenziellen Frontstadterfahrungen zwischen dem Bau und dem Fall der Mauer gewesen sein, die das Berliner Traditionsunternehmen nach 1989 bewog, das Schaufenster des Westens nach Mittel- und Osteuropa zu exportieren. Das hatte natürlich nichts mit Billiglöhnen und dergleichen mehr zu tun, sondern vor allem mit Kulturtransfer. Warum sollte, so mochte sich Peter Herlitz gedacht haben, der Beitritt Polens oder Tschechiens zur Europäischen Union nicht mit einem Herlitz-Kugelschreiber unterzeichnet werden.

Gesagt, getan. Bereits 1997 war Herlitz in Polen Marktführer bei Schulheften. Die wurde allerdings nicht in Berlin oder Falkensee produziert, sondern von 400 polnischen Beschäftigten in Poznań. Doch das war erst der Anfang. Bald schon wurden nahezu die gesamten Schulranzen, die schwer auf dem Rücken der Berliner Kids lasteten, in China hergestellt. Um die Jahrtausendwende arbeiteten von 5.200 Mitarbeitern gerade noch die Hälfte in Berlin und Brandenburg.

Es müssen solche Expansionserfolge gewesen sein, die den Berliner Politikern noch in den späten Neunzigerjahren die Illusion vermittelte, eines Tages vielleicht doch noch zu einer europäischen Ost-West-Drehscheibe aufsteigen zu können. Und es waren Nachrichten wie diese, die die Hoffnung jäh zum Absturz brachte: Kaum hatte die Münchner Herlitz-Tochter Herlitz International Trading in Russland eine Papierfabrik gekauft, kam der selbst ernannte Global Player aus Tegel ins Wanken. Die AO Volga erwies sich spätestens nach der russischen Rubelkrise als Milliardengrab. Das Osteuropageschäft, das Herlitz und mit ihm dem Millionendorf Berlin zu Weltruhm verhelfen sollte, war zugleich der Beginn eines Sturzes in die Bedeutungslosigkeit.

Das Denkmal

Erst das Schiller Theater, dann das Benjamin-Franklin-Klinikum, bald womöglich noch die Deutsche Oper. Viel ist in den vergangenen Jahren vom Untergang Westberlins die Rede gewesen. Doch mit Herlitz ist er nun, so muss man wohl unumwunden zugeben, endgültig besiegelt.

Mit Herlitz stirbt aber nicht nur der Westberliner Geist der Selbstbehauptung gegenüber einer Diktatur. Mit Herlitz geht auch das System Westberlin als kapitalistische Variante des Staatssozialismus zu Ende, und damit auch die Überlegenheit von McPaper gegenüber Bleistiften von Koohinor. Nun werden die Schüler zwischen Reinickendorf und Lichtenrade wohl bald mit Einwegkugelschreibern das Einmaleins der Marktwirtschaft lernen müssen.

Das wäre nicht allzuschlimm, hätte sich der rot-rote Senat nicht das endgültige Zusammenwachsen der beiden Stadthälften auf die Fahnen geschrieben. Und nun das: Westberlin stirbt reihenweise, und im Osten drohen schon jene Billiglohnkräfte, die es noch nicht zu einem Job bei Herlitz in Poznań gebracht haben.

Eigentlich gibt es da nur eine Lösung. Herr Flierl, verzichten Sie auf ein Rosa-Luxemburg-Denkmal und stiften sie stattdessen eine lebensgroße Statue für den Firmengründer Carl Herlitz. Dorthin können dann all jene pilgern, die sich ansonsten nur lautstark darüber beschweren, dass die Marzahnisierung Berlins längst begonnen hat.