Urbane Inseln für die Minderheiten

Chicago ist die Vorzeigestadt der USA – was Segregation anbelangt: Schwarze im Getto der Taylor Homes, Juden im Schtetl an der Golda-Meir-Straße. Ein Blick auf zwei Viertel einer Stadt, die ebenso gut in zwei verschiedenen Ländern liegen könnten

von SABINE BERKING

Chicago ist berühmt für seine Wolkenkratzer, für Bluesclubs und die Prohibition, für Al Capone und die Chicago Bulls. Wie ein Phönix aus der Asche stieg die Stadt in den letzten zwanzig Jahren aus ihrem industriellen und innerstädtischen Niedergang zur modernen Dienst- und High-Tech-Metropole auf. Ein deutliches Zeichen ist das Schicksal der Schlachthöfe entlang dem See. Sie verschwanden zugunsten einer der größten Stadtparkanlagen der USA.

Noch kann man Kadaver des industriellen Exodus im Süden der Stadt bestaunen. Aber über jene, die in diesen Fabriken ihr Geld verdienten, denken heute nur noch Sozialarbeiter und Stadtsoziologen nach. Letzteren bietet Chicago bestes empirisches Material. Die 3-Millionen-Einwohner-Metropole im 8-Millionen-Großraum am Michigansee hält den traurigen Rekord, die am stärksten segregierte Großstadt der USA zu sein. Im Klartext bedeutet das: An keinem anderen Ort leben Weiße von Schwarzen, Reiche von Armen und Alteingesessene von Einwanderern so deutlich voneinander abgegrenzt. Die Legende vom Schmelztiegel mutierte zur city of neighborhoods, zu einem Archipel ethnisierter Wohnquartiere, die jeder Minderheit ihr urbane Insel bieten. Doch was in einigen Gegenden als buntes Ethnopuzzle schillert, degenerierte andernorts zum rassenpolitischen Albtraum. Was im Norden als postkartentaugliche Multikulti-Idylle lebt, vegetiert im Süden der Stadt als Getto.

Wer auf dem U-Bahnsteig Washington Street im Zentrum Chicagos steht, dem kann nicht verborgen bleiben, dass auf der einen Seite nur Schwarze stehen und auf der anderen eine von Weißen dominierte Menschenmenge wartet. Wenn der Beobachter dann noch in den Expresszug in die wohlsituierten Vororte steigt, wird er kaum noch Farbige im Zug entdecken.

Ein modernes Getto

„Lady, you got nothing to do here!“, rief mir der Polizist entgegen. Als ich etwas erwidern wollte, nahm mich der Mann beherzt am Arm, führte mich zurück zum Bahnsteig and setzte mich in den ersten Wagen des nächsten Zuges. „Go back into town and take the non-stop bus.“ Damit war die Exkursion in den schwarzen Süden Chicagos beendet.

Vom Bus aus sah ich dann die Reste der 1962 erbauten Robert Taylor Homes gleich hinterm prosperierenden Zentrum wie traurige Mahnmale der Rassentrennung in den Himmel ragen. Mit ihren grauen Fassaden und vernagelten Fenstern hätten sie in Murmansk oder Bukarest stehen können. Hin und wieder macht ein Touristenbus, der aus dem angrenzenden Chinatown kommt, eine Schleife durch das größte und spektakulärste Projekt des sozialen Wohnungsbaus in den USA. Doch kein Tourist würde es wagen, auszusteigen. Auch die letzten der 28 an die Architektur von Mies van der Rohe und Le Corbusier angelehnten Hochhäuser sollen abgerissen werden. Bis zu 30.000 Menschen haben hier einmal gelebt. Fast alle schwarz und Sozialhilfeempfänger.

1995, während der Clinton Administration, hob der Kongress ein Gesetz von 1937 auf, das vorgeschrieben hatte, jede abgerissene Sozialwohnung durch eine neue zu ersetzen. Für die Stadt Chicago ein Signal, mit der Eliminierung des ungeliebten Housing Project zu beginnen. Der Tod eines fünfjährigen Jungen, den ältere Kinder brutal aus einem Fenster der oberen Stockwerken geworfen hatten, bot eine medienwirksame Rechtfertigung für den Abriss. Dabei waren die Taylor Homes anfangs ein erfolgreiches Projekt gewesen. Sie sollten schwarze Low-income-Familien mit bezahlbarem menschenwürdigem Wohnraum versorgen. Übergangsweise. Mietervertretungen arbeiteten mit der CHA (Chicago Housing Authority) zusammen und konnten so Einfluss auf die Vergabe des Wohnraums nehmen.

Der Abstieg des Viertels

Sukzessive wurden die Einkommensgrenzen für Sozialwohnungen gesenkt. Immer mehr Welfare-Empfänger ersetzten die Mieter mit Jobs. Die als korrupt und schlecht organisiert geltende CHA regierte schließlich, ohne Herr der Lage zu sein. Anstatt eine Insel bescheidenen Wohlstands und ein Sprungbrett in die Gesellschaft zu werden, verkamen die Hochhäuser selbst zum Getto. Welfare wurde zur Daseinsform. In Drogenhandel und Kleinkriminalität sahen schwarze Männer den einzigen Weg, irgendwie am American Dream teilzuhaben. Frauen sicherten sich durch ledige Mutterschaft innerhalb der Community ihren sozialen Status. Nur minderjährige Kinder garantieren den Bezug von Sozialhilfe. Schließlich ließ Bürgermeister Daley senior zwischen den Taylor Homes und dem weißen Bridgeport, wo er selbst aufwuchs, eine Schnellstraße bauen. Damit war die Gegend vom Rest der Stadt isoliert. Der städtische Nahverkehr meidet den Kiez wie eine Leprakolonie. Zwischen dem Stadtzentrum und der im Süden Chicagos als weiße Enklave gelegenen University of Chicago pendeln Non-stop-Busse. Einbahnstraßen und Sackgassen besiegeln eine perfide Rassenpolitik. Es gibt Kinder in den Taylor Homes, die Weiße nur aus dem Fernsehen kennen.

Dass Bürgermeister Daley junior jene Wohnungen, die sein Vater einst bauen ließ und an denen private Firmen Millionen verdienten, nun abreißen lässt, ist eine böse Ironie der Geschichte. Die Mieter werden mit Vouchern für den freien Wohnungsmarkt ausgestattet. Befürworter des Abrisses meinen, in ethnisch und sozial gemischten Gegenden würden die allein erziehenden „Welfare-Moms“ Anschluss an die Gesellschaft und Jobs finden. Solche Gegenden sind rar, seit für gut verdienende Haushalte die Innenstadt mit ihren Theatern und Szenekneipen gegenüber den drögen Suburbs wieder attraktiver geworden ist und Immobilienfirmen mit innerstädtischem Land wieder Profite machen. Und selbst wenn im umstrukturierten Kiez der Taylor Homes für ein paar ehemalige Mieter subventionierter Wohnraum entstehen sollte – womit noch nicht einmal begonnen wurde –, müssen die Familien bis dahin überleben. Wo, bleibt die Frage. Inzwischen leben in den verbliebenen Wohneinheiten noch tausende, legal und illegal.

Selbsthilfegruppen und Civil-Rights-Aktivisten haben die Öffentlichkeit alarmiert, doch die möchte das Problem schnell vergessen. Ein Polizist meinte sarkastisch: Alles, was funktionieren könnte, wäre politisch nicht korrekt, und was politisch korrekt wäre, funktioniert eben nicht.

Vom Schtetl zum Basar

„Ich möchte ins Babuschka-Haus ziehen“, sagte die alte Maja und bat mich verzweifelt, einen Brief aufzusetzen. Sie war Mitte der Neunzigerjahre mit Kindern und Enkeln als politische Asylantin aus dem aserbaidschanischen Baku nach Chicago gekommen. Jetzt lebt sie in einem Altenheim in Evanston, wo sie mit keinem ihrer Mitbewohner reden kann. Maja spricht kein Englisch. In den Zentren für russische Juden fühlte man sich für sie wiederum nicht zuständig, weil sie Armenierin ist. Die armenische Diaspora-Gemeinde konnte bisher nicht helfen.

Im Babuschka-Haus, einem tristen Hochhaus, feiert die ehemalige Sowjetunion einen friedlichen amerikanischen Lebensabend. Maja spricht Russisch, Aserbaidschanisch, Armenisch. Ein bisschen Jiddisch, den ihr Mann war Jude. Das Amerikanische mit seinen lateinischen Buchstaben stellt für die Siebzigjährige eine schier unüberwindliche Hürde dar. Lernen wird sie es dennoch, wenigstens ein bisschen, denn nach fünf Jahren muss ein Antrag auf Einbürgerung gestellt und ein Sprachtest abgelegt werden. Nur in besonderen Härtefällen werden Ausnahmen gemacht. So will es das Gesetz. Die postsowjetische Rentnerenklave befindet sich auf „Devon“, einer Straße im Norden Chicagos, benannt nach der englischen Heimat ihrer ersten Bewohner im 19. Jahrhundert. Die Puritaner sind weitergezogen, in die vornehmen Vororte. Zur einen Hälfte heißt die Straße heute Indira-Gandhi-Straße, zur anderen Golda-Meir-Straße. Die Stadt hat ihren Bewohnern erlaubt, den Kiezstraßen Zweitnamen zu geben, wovon – mit Blick auf das Monroe-Washington-Einerlei amerikanischer Straßen – reger Gebrauch gemacht wird.

Lange Zeit bestimmten orthodoxe Juden das Viertel. Heute gibt es nur noch ein paar koschere Bäckereien und Fleischer. Auch die Juden sind in die Vororte gezogen, nach Skokie zum Beispiel, das über Jahre die größte Gemeinde von Holocaust-Überlebenden außerhalb Israels beheimatete. In Schaufenstern liegen Sabbatgeschirr und Menoras nun neben dem geistigen Strandgut der aus Moskau und Kiew immigrierten Intelligenzija. Die letzten im Viertel verbliebenen Orthodoxen ertragen die säkularisierten sowjetischen Juden und die zahlreicher werdenden Inder mit stoischem Gleichmut und gebührendem Respekt. Hier war jeder mal Einwanderer.

Die ersten Inder kamen in den Sechzigerjahren. Ein Gesetz von 1965 hatte Akademikern die Einwanderung in die USA ermöglicht. Sie, die gleich ganz oben in der gesellschaftlichen Hierarchie einstiegen, zogen sofort in die Wohngegenden der weißen Mittelschicht. Jahre später folgten Familienmitglieder, die nicht immer über gleichwertige Qualifikationen verfügten. Sie eröffneten Restaurants und Sari-Läden, Reisebüros und Taxiunternehmen. Nach und nach wurde so die Gegend um die Devon Street zu einer der größten indisch-pakistanischen Neighborhoods der USA – ein ideales Wirkungsfeld für die Migrationsforscher und Soziologen: Die Metamorphose der Migration.

Literatur: Sudhir Alladi Venkatesh: „American Project. Rise and Fall of a Modern Ghetto“. Cambride und London 2000. Richard Lindberg: „Passport’s Guide to Ethnic Chicago: A Complete Guide to the Many Faces & Cultures of Chicago“. Chicago 2001.