Unterm Gewand

Jahrelang haben die katholischen Würdenträger in den USA Fälle von Kindesmissbrauch durch Priester gedeckt

WASHINGTON taz ■ Das Böse hat die US-amerikanische Hauptstadt erreicht. Die örtliche Diözese suspendierte gestern einen ihrer prominentesten kirchlichen Würdenträger, den Priester der St.-Augustine-Kirche, vom Dienst. Der Grund: Ihm wird vorgeworfen, zwei junge Mädchen vor 20 Jahren sexuell missbraucht zu haben. Der 54-jährige Monsignore Russell Dillard hatte zwar eine Beziehung mit Körperkontakten zu den Mädchen eingestanden. Er wies jedoch die Vorwürfe zurück, sie missbraucht zu haben. Er hätte sich als enger Freund verstanden.

Eine der betroffenen Frauen, heute eine 32 Jahre alte Professorin, war vor wenigen Tagen an die Öffentlichkeit gegangen, nachdem immer Fälle sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester bekannt werden. „Ich wollte dazu beitragen, dass dies nie wieder geschieht.“

Angefangen hatte alles in Boston. Die Stadt mit ihren rund zwei Millionen Katholiken ist die viertgrößte Diözese in den USA. Im Januar hatte die Zeitung Boston Globe erstmals schwere Vorwürfe gegen einen Priester erhoben. Dem 66-jährigen John Geoghan wurde vorgeworfen, innerhalb von 20 Jahren über hundert Jugendliche sexuell belästigt zu haben. Wenig später sprach der zuständige Kardinal Bernard Law, einer der mächtigsten katholischen Würdenträger in den USA, öffentlich von einer „Schande“. Im Februar wurde Priester Geoghan von einem Gericht wegen Missbrauchs eines zehnjährigen Kindes zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Seit Januar mussten mindestens 58 Geistliche, darunter auch ein Bischof aus Florida, ihr Priestergewand an den Nagel hängen. Gegen rund 2.000 Priester ermitteln Polizei und Anwälte.

Die Affäre und die Entrüstung sind nun auch bis zum Vatikan vorgedrungen. Am Donnerstag prangerte Papst Johannes Paul II. die Verbrechen seiner Mitbrüder scharf an. Sie hätten den „schlimmsten Ausformungen des unergründlichen Bösen in der Welt nachgegeben“. Wörter wie Kindesmissbrauch und Pädophilie kamen jedoch in seinem Schreiben an die Hirten in aller Welt nicht vor.

Für viele Menschen in den USA liegt der eigentliche Skandal jedoch woanders. Von den Verbrechen des nun verurteilten Priesters in Boston hatten seine Vorgesetzten gewusst. Das hat auch Kardinal Law zugegeben. Anstatt den Übeltäter aus den eigenen Reihen zu entfernen, wurde verheimlicht, gezahlt und versetzt – offenbar gängige Praxis seit Jahren.

Nach Schätzungen hat die katholische Kirche in den USA seit 1985 rund eine Milliarde Dollar an Schmerzens- und Schweigegeldern aufgebracht. Dass diese Strategie am Ende nicht mehr funktionierte, ist allein dem öffentlichen Druck zu verdanken. So sah sich Kardinal Law kürzlich gezwungen, den Justizbehörden eine Liste mit den Namen von mehr als 80 Geistlichen zu übergeben, denen sexueller Missbrauch vorgeworfen wird. Seitdem ist das Schweigen gebrochen. Überall fordern Katholiken eine uneingeschränkte Offenheit über die Verfehlungen ihrer Geistlichen. Immer mehr Opfer melden sich zu Wort wie gestern in Washington. Und in Boston wird der Ruf immer lauter nach Konsequenzen für den Oberhirten, der den Missbrauch jahrelang gedeckt und vertuscht hat: „Treten Sie zurück, Herr Kardinal.“ MICHAEL STRECK