Boss im Schafspelz

In der Mongolei betreiben heute, zwölf Jahre nach Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft, die Bürger ihre Wirtschaftsförderung selbst. Was die Regierung plant, interessiert kaum jemanden. Eine Rundreise durch ein Land im Aufbruch

von MERLE HILBK

Schwer hängt der Himmel über Ulan-Bator. Plattenbauten, gläserne Kaufhausfassaden und Jurten dämmern am Rande des Regierungsviertels einträchtig nebeneinander in den Winter hinein. Auf Pfennigabsätzen stöckelt Frau Baasanhuu über den Parkplatz zu ihrem Jeep. Viel zu dünn sind die schwarzen Lackstiefel für diese Jahreszeit, ganz zu schweigen von dem Minirock. „Als Geschäftsfrau muss man auf ein gepflegtes Äußeres achten“, erklärt sie. Die Anfangvierzigjährige ist Generaldirektorin von TBD Anduud Ltd., einer Im- und Exportfirma, die auf den Namen ihres Mannes läuft und all das verkauft, was die Luxusbedürfnisse der Neureichen befriedigt: Bossanzüge, Steilmannkleider, Lippenstifte, Milka und Marshmellowkekse.

Der Name Anduud ist so etwas wie ein Symbol für die Neue Mongolei. Das Ehepaar hat es geschafft, die Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft im einst sozialistischen Land als Erweiterung ihrer Chancen zu begreifen. „Früher konnten intelligente und wortgewandte Leute nur politisch Karriere machen. Jetzt kann man auch noch reich werden.“ 1990 wurde das kommunistische Regime durch die erste demokratisch gewählte Regierung der Mongolei abgelöst. Ein Systemwechsel, der ohne Gewalt, ohne große Widerstände verlief – und Beobachter in Ost und West erstaunte. Wenig später nahm eine Koalition unter Führung der Mongolischen Revolutionären Volkspartei (MRVP), der Nachfolgerin der kommunistischen Partei, die noch nicht einmal den Namen gewechselt hat, ihre Arbeit auf.

Seither gab es sechs Mal Neuwahlen. Sobald eine Partei Fehler machte, sobald etwas von Korruption durchgesickerte, wurde sie abgewählt. Jetzt ist wieder einmal die MRVP an der Macht. Obwohl es Pressefreiheit gibt, weiß kaum jemand, was die Regierung plant. Nicht, weil die irgendetwas verheimlicht. Es interessiert nur die wenigsten.

Die mongolische Hauptstadt ist zu einem Ort geworden, an dem man reich werden kann, wenn man eine Nase für den Markt und die richtigen Kontakte hat. Wer Mieter einer Erdgeschosswohnung ist, hat sie in eine Bar oder Boutique verwandelt. Der CD-Shop im „Department Store“ führt Madonna, Beatles und Garbage, und in der Mercedesniederlassung wartet die S-Klasse. Autos sind ein wichtiges Statussymbol geworden im Land der Pferde und Reiter. Fast so wichtig wie Designerkleidung, wie sie TBD Anduud verkauft.

Mehrmals im Jahr fliegt Frau Baasanhuu nach Deutschland, um persönlich bei Steilmann oder Boss Ware zu ordern. Die schickt sie dann im Container mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mongolei; Berlin–Moskau–Peking–Ulan-Bator, „die Strecke der Bestechungsgelder“, wie sie sagt. Bei den Verhandlungen helfen ihre Sprachkenntnisse: russisch, englisch und deutsch.

In den frühen Achtzigerjahren hatte man sie und ihren Mann zur Ausbildung in die DDR geschickt. Wie die meisten Mongolen, die aus dem sozialistischen Bruderland zurückkehrten, machten auch sie in der Heimat Karriere. Herr Anduud wurde Vizeminister für Landwirtschaft, seine Frau hielt die Verbindung zu Bekannten aus der DDR, die später in der Bundesrepublik auf wichtigen Posten saßen. So wurde TBD Anduud zu einem der am schnellsten wachsenden Unternehmen in Ulan-Bator. „Wir sind die Zukunft der Mongolei“, sagt Frau Baasanhuu. „Wir bereiten den Boden für den internationalen Markt.“

Nur wenige Menschen können sich in der Mongolei über Konsumbedürfnisse Gedanken machen, und die wohnen in der Hauptstadt. Nur dort nahm der Staat eine Entwicklung, wie sie der Westen voraussah – mit Cliquenbildung, Wettbewerb, Konsumgier und all den bekannten Phänomenen postsozialistischer Staaten. Fast drei Viertel der Mongolen leben auf dem Land, und dort setzte ein Prozess ein, den Ethnologen „neuen Nomadismus“ nennen. Ehemalige Lehrer, Verwaltungsleute, Arbeiter, Viehzüchter verließen die Dörfer, um mit einer Jurte durch Steppen und Wüsten zu ziehen. Seit der Wende hat sich die Zahl der Nomaden wie der Nutztiere mehr als verdoppelt.

Als 1993 die mongolischen Kolchosen, die „Negdel“, privatisiert wurden und die Regierung Anteilsscheine an die Mitglieder verteilte, tauschten die meisten diese nicht gegen LKWs, Gebäudeteile oder Maschinen ein, sondern gegen Tiere. Was in Deutschland das Eigenheim ist, ist in der Mongolei das Schaf: ein Stück Sicherheit. „Mobiler Tierzüchter“ gilt als krisenfester Beruf. „Wer Tiere hat, kennt keinen Hunger“, sagt Herr Batamgalan, der seit zwei Jahren mit seiner Herde am Fuße des Altai in der Zavhan-Provinz lebt.

Aber Nomaden sind auf die Strukturen der Sesshaften angewiesen. Sie brauchen Schulen, Krankenstationen, Veterinäre und Händler, die ihnen Schaffelle und Ziegenhaar abkaufen oder gegen Mehl, Zucker und Batterien tauschen. Bis in die Zwanzigerjahre hatten neunhundert buddhistische Klostersiedlungen die Funktion der Versorgungszentren übernommen. Bis ins Ausland verkauften die Mönche die Produkte der Nomaden, sorgten für Lebensmittelnachschub und unterrichteten die Kinder in klostereigenen Schulen. Nach der Gründung der Volksrepublik ließen die Kommunisten die Klöster zerstören. Die Nomaden verelendeten, bis die neuen Machthaber die Herden kollektivierten und den ehemaligen Besitzern in den „Negdel“ ein gesichertes Auskommen versprachen. An den Plätzen der alten Klostersiedlungen errichteten sie „Sums“, Provinzdörfer mit Schulen und staatlichen Läden. Der Staat sorgte für den Verkauf der Tierprodukte, die bis nach Sibirien und die DDR geliefert wurden. Aus Russland, dem Ideengeber für den „Industrie-Agrar-Staat Mongolei“, flossen Hilfsgelder.

Mit der Privatisierung der „Negdel“ 1993 brachen wieder einmal alte Strukturen zusammen. Nur gab es diesmal keine neuen. Krankenhäuser, Heizwerke und Futterlager verfielen, und dann setzte auch noch die „Zud“ ein, eine lang andauernde Kälte- und Schneeperiode, in der die Tiere kein Gras mehr fanden unter dem hart gefrorenen Schnee. Seither zieht sich um viele Dörfer und Jurtengemeinschaften ein Ring von Skeletten. Niemand wagt, sie wegzuräumen. Tote Schafe anzufassen bringt Unglück, heißt es.

Trotzdem harren die meisten Nomaden aus. „In der Stadt hat man zu viele Sorgen“, meint Batamgalan: Arbeitslosigkeit, hohe Mieten, Brennstoff- und Lebensmittelknappheit, schlechte Luft. „Wirtschaftliche Entwicklung der Mongolei“ bedeute vor allem Entwicklung des ländlichen Raumes, heißt es in einer Studie der FU Berlin. „Die mobile Viehzucht ist die Säule der mongolischen Volkswirtschaft. Für sie gilt es, neue Strukturen zu schaffen.“

Nalaikh ist eine Provinzstadt fünfzig Kilometer östlich von Ulan-Bator. Die Folgen des Fabriksterbens sind hier noch immer zu spüren. Das Bekleidungskombinat gab kurz nach der Wende auf, die Glasfabrik ist eine Ruine, und dann schloss auch noch das Bergwerk, das mehrere tausend Menschen beschäftigt hatte. Jetzt haben junge Leute kleine Essbuden und Werkstätten eröffnet. Banken gibt es in Nalaikh nicht, ganz zu schweigen von Gewerbeförderung. Siebzig Prozent der Einkommen, so schätzt man in der Verwaltung, stammen aus der Schattenwirtschaft. Steuern zahlt kaum jemand.

„Ohne Freunde läuft hier wenig“, sagt Herr Scholekoo, der früher im Bergwerk arbeitete. Mit früheren Arbeitskollegen hat er einen Stollen gegraben, aus dem sie täglich zwanzig bis dreißig Tonnen Steinkohle mit Hacken fördern. Zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Die Kohle geht an eine Getränkefabrik in Ulan-Bator. Scholekoos Chef ist so lange durch die Stadt getingelt, bis er einen Vertrag mit einem zuverlässigen Abnehmer in der Tasche hatte.

Auch Tschuluungerel, Scholekoos Chef, arbeitete im Bergwerk, bevor der neue Staat beschloss, die Kohleförderung in Nalaikh einzustellen. Heute graben überall kleine Stollengemeinschaften. Die meisten verkaufen ihre Kohle am Rand von Ulan-Bator. Tschulungerels Stollen ist der größte in Nalaikh und einer der wenigen, der Gewinn abwirft. Den dreizehn Hauern geht es fast so gut wie vor der Wende. Sie bekommen ein Gehalt, das für Lebensmittel und die Miete reicht, und Tschuluungerel hat sogar eine Krankenversicherung für sie abgeschlossen. Das Gehalt ist von der Leistung des ganzen Teams abhängig.

Auch Frau Batgerel hat sich selbstständig gemacht. Nach Jahren ohne Job hat die 34-Jährige jetzt ein kleines Lokal in einer umgebauten Zweiraumwohnung im Zentrum von Nalaikh eröffnet, mit Plastikstühlen, Tresen und selbst gemalten Pin-ups. Das Geld liehen Verwandte, der Bruder renovierte, und Frau Batgerel kocht. Heute gibt es Hammelgulasch, Hackklößchen und Rinderbraten. „Wir betreiben hier so was wie Wirtschaftsförderung in der Provinz“, sagt sie stolz und deutet auf einen Hügel mit einer Schafsherde. „Wissen Sie, woher wir unser Fleisch beziehen?“ Sie grinst. „Eins-a-Qualität, nicht zu fett. So bekommen sie es nur von Nomaden.“

MERLE HILBK, Jahrgang 1969 und freie Journalistin in Hamburg, besuchte die Mongolei zwei Mal, zuletzt Ende voriges Jahres