Algerien bleibt gegenwärtig

Vierzig Jahre nach dem Ende des Krieges in der Exkolonie lösen sich in Frankreich die Zungen der Kriegsteilnehmer. Nachfahren der Opfer klagen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Eine Atombombe sollte man da reinschmeißen,“ sagt die falsche Blondine in einem Couscous-Restaurant. Sie ist Tochter von Pieds Noirs – einstigen französischen Siedlern in der Kolonie – und noch „auf der anderen Seite des Mittelmeers“ zur Welt gekommen. „Die wären doch heute froh, wenn wir dageblieben wären. Die kommen jetzt nicht einmal mit ihren eigenen Terroristen zurecht“, sagt der Ingenieur, der heute in einer Vorstadt von Paris lebt. Vor seiner Verrentung hat er auch als Experte für die Erdgasförderung in der Sahara gearbeitet. „Nein! Pacal – schieß nicht! Bitte schieß nicht! Da sind doch Kinder drin! Und Frauen! Lass uns abhauen!“, schreit der krebskranke alte Mann in den Tagen vor seinem Tod immer wieder. Als junger Mann musste er in Algerien Kriegsdienst leisten.

Drei zufällig ausgewählte Gesprächsfetzen, die hören kann, wer in Frankreich Gesprächen über Algerien lauscht. Heute – 40 Jahre nach Inkrafttreten des Waffenstillstands von Evian, der den fast achtjährigen Befreiungskrieg beendete und die Unabhängigkeit nach 132 Jahren Kolonialgeschichte einleitete – ist das Thema in Frankreich noch voller Leidenschaften. Allmählich lösen sich die Zungen. Kriegsteilnehmer beider Seiten trauen sich, von ihren Erlebnissen zu sprechen. Folteropfer und Folterer. Algerier, aber auch Franzosen.

Die Nachfahren der „Harkis“, algerische Soldaten, die im Dienste der französischen Kolonialarmee die Drecksarbeit in dem Krieg leisteten, versuchen wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu klagen. Frankreich hat die meisten dieser Hilfssoldaten 1962 bei dem überstürzten Rückzug ins „Mutterland“ zurückgelassen. Zig-, wenn nicht hunderttausende wurden in Algerien als „Verräter“ ermordet. Die nach Frankreich Evakuierten wurden in Internierungslager gepfercht. Ihre Nachfahren werden heute noch von den Nachfahren der „anderen“ Algerier geschnitten.

Angehörige von elf französischen Militärs, die nach dem 19. März in Algerien „verschwunden“ sind, reichten in den vergangenen Wochen ebenfalls Klage wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ein. Die Witwe des französischen Kommunisten Maurice Audin, der vermutlich der erste „Europäer“ war, der den französischen Folterern zum Opfer fiel, überlegt ihrerseits eine Klage wegen „Entführung“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Auf der Seite der Täter beschreiben heute französische Exgeneräle in Büchern, wie sie zwischen 1954 und 1962 in Algerien „Terroristen“ folterten und mordeten. Einer von ihnen, Paul Aussaresses, der an der Spitze eines Todesschwadrons stand, ist gerade in Paris verurteilt worden. Nicht wegen der Folter, sondern weil er sie in in seinem Buch „verherrlicht“ hat. Die Kriegsverbrechen selbst sind von einer Generalamnestie gedeckt. Aussaresses hat Berufung gegen das Urteil eingelegt.

40 Jahre danach ist in der offiziellen Politik in Frankreich vieles in Bewegung geraten. Einer von vielen Auslösern war der Bericht einer algerischen Unabhängigkeitskämpferin, Luisette Ighilahriz, die im Juni 2000 ihre Folter durch die – noch lebenden und vielfach ausgezeichneten – französischen Militärs Massu und Bigeard beschrieb.

Erst drei Jahre ist es her, dass das französische Parlament den „Ereignissen“ beziehungsweise der „Wiederherstellung der Ordnung“ – wie es in Frankreich offiziell hieß – den Namen gegeben hat, die sie verdienen: „Krieg“. Erst drei Wochen ist es her, dass das Parlament über einen nationalen Gedenktag beraten hat. Es könnte der 19. März werden. Der Beschluss ist in die nächste Legislaturperiode vertagt.

Der Krieg, bei dem auf algerischer Seite zwischen einer halben und einer Million und auf französischer rund 27.000 Menschen ums Leben kamen und an dessen Ende eine Million Pieds Noirs Algerien verlassen mussten, ist auch „auf der anderen Seite des Mittelmeers“ lange verdrängt worden. Nach der Unabhängigkeit im Juli 1962 ergriffen in Algerien neue Männer die Macht. Sie drängten die „historischen Chefs“, und die Intellektuellen der Befreiungsbewegung ins Abseits. Der „antifranzösische Diskurs“ diente ihnen als ideologischer Kitt. Die Aufklärung über den Krieg wurde verdrängt.