Er lebt

Kreisch, qietsch, schepper, kratz: Lou Reed und das Berliner Ensemble Zeitkratzer hauten ihrem Publikum mit der Welturaufführung von „Metal Machine Music“ im Schauspielhaus lustvoll eine geballte Ladung Krach um die Ohren

Natürlich hielt man sich in Lous Lager monatelang bedeckt über eine Mitwirkung des Meisters an der Welturaufführung seines Noisebretts „Metal Machine Music“ durch das Berliner Ensemble Zeitkratzer. Klar, dass die Ankündigung dann doch kam. Logisch sprach sie zurückhaltend von „Mitwirkung am Ende des Stücks“. Selbstverständlich sollte es schließlich das ganze Stück sein. Und am Ende war der Soundfetischist im Festspielhaus dann doch nur für das Fitzelchen dabei, das – „Always leave them wanting more“ – keinem wirklich reichen konnte.

Mit Lou Reed hielt das Prinzip Rockstar Einzug beim Neue-Musik-Festival „Maerzmusik“! Wie bei seiner ersten Erscheinung bei den Proben („Pssst! Lou ist hier“). Bei der Pressekonferenz im Hyatt am Freitag („Blöde Fragen!“). Und zwei Stunden vor Showtime, als Cheftheoretiker Diedrich Diederichsen, indisponiert, wie er war, am New Yorker Rock-‘n‘-Roll-Entertainer Lou Reed ein ums andere mal abglitt wie nichts Gutes: „In den Liner Notes sprachen sie dagegen ausführlich von …“ – „Oh, mit diesen Liner Notes sollten sie mich nicht zu ernst nehmen: Sie waren eine Parodie auf Liner Notes, die zu ernst genommen werden“

Auf der Bühne dann Ernsthaftigkeit galore, leider sogar beim läppischen Entree, das eine Spur gut gelauntes „Bullshitting“, wie sie Reed beim Aufwärm-Parlando an den Tag gelegt hatte, durchaus vertragen könnte: Die von Zeitkratzer bereits mehrmals aufgeführten „13 Pieces: Meditations on POE“ sind nach verschiedenen Arrangement-Änderungen nun zwar näher an Reeds härtere Keyboard-Skizzen gerückt, kommen aber über einen lässlichen Kurorchester-Effekt nicht hinaus. Zur klanglichen oder strukturellen Herausforderung eines abgebrühten Neue-Musik-Publikums taugen solch harmonische Kinderliedchen kein Stück – und für Popmusik sind sie nicht catchy genug. Bleibt ihr eigentlicher Effekt: Die Tür geöffnet zu haben zwischen Zeitkratzer-Chef Reinhold Friedl und Velvets-Veteran Lou Reed für das eigentliche Ereignis des Abends.

Das bricht nach der Pause über das Publikum wie ein Bulldozer! Kreiiiiisch! Quiiiiietsch! Schepper! Kratz! Rööööhr! gehen zehn aufgeräumt in sich hinein lächelnde junge Männer bis vor die Schmerzgrenze verstärkt mit „Metal Machine Music“ von Null auf Hundert. Lärmen sich die Arme ab (vier Streicher), pusten sich die Lungen leer (drei Bläser), kratzen und schaben und klimpern über Schlagwerke, Akkordeon und Flügel, dass es eine Freude ist. Ein mal 16:04 Minuten, „Scheiße!“- und „Super!“-Rufe, erste Abgänge. Zwei mal 16:04 Minuten, Abgänge jetzt stetig, wenn auch wenige. Drei mal 16:04 Minuten, also 48:12 Minuten Daueremphase mit nur kleinen Modulationen in Tonlage, Klangcharakter, Rhythmus – aber total kurzweilig, und schneller verflogen als die wildeste Fußballhalbzeit.

Bis Metallmaschinist Reed selbst auf die Bühne kommt, seine Gitarre einstöpselt, sich in die Mitte der Bühne setzt – und die Hölle losbricht! Mama mia! Juhu! Und alles wird gut! Vergessen die biederen Altmänneralben der letzten Jahre, vergeben das ewige Gemuffel, vorbei die Trauer um den Verlust des bissigsten Motherfuckers der Rockgeschichte: Er lebt! Schreit, dröhnt und jault auf seiner Gitarre, dass die drei Sätze zuvor als Pipifax in der Erinnerung verblassen, holt das Ensemble dazu, das nun plötzlich regelrecht rockt, macht die Kiste zu. Ob es sein Plan war, damals 1975, sich als Klassiker in der Avantgarde zu verewigen? Ob er versuchte, einen Ausweg aus seiner Karriere zu finden, indem er sie zerstört? Er liebt seine Gitarren. Es packt ihn, wenn sie anfangen zu lärmen. Wie es Berlinern im März 2002 entschädigt, in all dem Wischiwaschi-Alltag eine Ladung elektrische Gitarren um die Ohren zu bekommen, so ging es Lou Reed seit den Sechzigern. Und so wird es für Noise-, Industrial-, Rock- und Neue-Musik-Freunde in Ewigkeit sein.

Natürlich kommen die Ovationen auf den Rockdinosaurier im Tempel der Hochkultur hernach stehend. Klar, dass die ersten Kommentare von der Kategorie „Danach kommt nichts mehr!“ sind.

Logisch, dass sie schnell Kritteleien über diesen und jenen Musiker, diese und jene Phase, diesen und jenen Effekt Platz machen. Selbstverständlich mögen derlei Betrachtungen ihre Berechtigung haben. Aber ein bisschen sind sie bei einem Stück, mit dem ein „Rock‘n‘Roll Animal“ sich einst mal eine Runde Urschrei gönnte, auch Papperlapapp. CHRISTIAN BECK