vorlesungskritik
Erkenntnisgewinn unter freiem Himmel
: Führung ohne Führer

„Sind Sie der Führer?“ Sehr komisch. Klaus-Dieter Jurk vom „Arbeitskreis Geschichtsräume“, erfahrener Cicerone im architektonischen Niemandsland zwischen Wilhelmstraße und Potsdamer Platz, verneint die Frage mit gequältem Grinsen: „Wenn ich der Führer wäre, wäre ich nicht hier …“ Diesen Kalauer muss er wohl jedesmal ertragen. Die regelmäßige Stadtführung „vom Kaiserhof zum Führerbunker“ führt historisch interessierte Stadtflaneure in das Regierungszentrum der Weimarer Republik und des Dritten Reiches.

Obwohl das unrühmliche Ende von Preußens Gloria gerade mal fünfzig Jahre zurückliegt, gibt’s an der Oberfläche freilich nicht mehr viel zu sehen. Die Zuhörer blicken sich zunächst etwas unsicher um und versuchen sich zu orientieren. Am Startpunkt U-Bahnhof Mohrenstraße/ Ecke Wilhelmstraße steht auf der einen Seite der futuristische Block der Tschechischen Botschaft, gegenüber ein architektonisch zumindest ebenso ambitionierter Döner-Laden. „Hier isst Hans Eichel immer sein halbes Hähnchen!“, informiert der Stadtführer sein Publikum und schwenkt dann um auf die etwas fernere Zeitgeschichte. Schwer vorstellbar, aber wahr: An dieser völlig verbauten Ecke gab es mal einen großen Platz, an dessen Ostseite das Hotel „Kaiserhof“ stand. Hier residierten in den Dreißigerjahren Nazigrößen wie Hitler und Göring. Die hatten es von hier aus nicht weit bis zur Reichskanzlei.

Doch auch von dem einst über 400 Meter langen Gebäude an Wilhelm- und Voßstraße sieht man heutzutage gar nichts mehr. „Um noch einen authentischen Eindruck von der Innenarchitektur der Reichskanzlei zu bekommen, brauchen sie aber bloß in den U-Bahnhof hinabsteigen!“ Die Zuhörer blicken in den dunklen BVG-Schlund, wo an den Wänden deutscher Marmor schimmert. Dann heften sie ihre Augen Hilfe suchend auf die präsentierten Abbildungen. Eine Rentnerin übersetzt die Ausführungen des eloquenten Guides für ihren Freund ins Polnische. „Das hat sich natürlich alles etwas verändert hier“, gibt der Stadtführer noch zu. Er selbst habe aber noch alles im Originalzustand erlebt, kurz nach dem Krieg. Dann marschiert er in Richtung Wilhelmstraße ab.

Kaum ist das Brachgelände passiert, an dem einmal die Generaldirektion der Reichsbahn hofierte, ist bereits die Leipziger Straße und das ehemalige Reichsluftfahrtministerium erreicht. Heute amtiert hier der sparsame Hähnchenesser Hans Eichel. Ursprünglich baute den langweiligen Kasten allerdings der nicht ganz so sparsame Feldmarschall Herrmann Göring. „Die Flurbeleuchtung im Seitenflügel besteht immer noch aus Flakscheinwerfern!“, brüllt der Stadtführer gegen den Verkehrslärm an. Während der polnische Gast noch das realsozialistische Mosaik an der Muschelkalkfassade des denkmalgeschützten Mega-Gebäudes betrachtet, lenkt der Führer die Gruppe über die Leipziger Straße zum Potsdamer Platz. Dort hat er unangenehme Wahrheiten zu verkünden. „Der Potsdamer Platz ist ja bloß eine unbedeutende Verkehrinsel gewesen. Wo jetzt Potsdamer Platz dransteht, ist eigentlich der Leipziger Platz!“

Na, so was! Wieder hat er zahlreiche alte Pläne und Abbildungen parat. Der Potsdamer Platz ist als eine Mogelpackung. Plötzlich steht die Gruppe mitten in einem spätsozialistischen Wohnviertel. „Dort oben wohnt Schabowski, dort links die Witt, dort drüben Anke Fuchs.“ Der Guide kennt sich gut aus hier. „Die Wohnungen sind billig, aber ziemlich hellhörig.“ Der Rentner aus Ostberlin, ein ehemaliger Bauarbeiter, nickt zustimmend. Besser schallisoliert waren die Reste des Führerbunkers, die unter dem sozialistischen Wohnparadies immer noch schlummern. „An einer richtigen Tiefenenttrümmerung war die DDR nicht interessiert.“ ANSGAR WARNER