modernes antiquariat
Theodor Plievier: Berlin (1954)
: Schwarze Rauchwolke am Horizont

Eine Flasche Cognac, ein Marschbefehl, und los geht’s: Im April 1945 bekommt ein in Prag stationierter Wehrmachtsoffizier den Auftrag, sich zwecks Fortbildung in der Pionierschule Berlin-Karlshorst zu melden. Keine gute Idee – die rote Armee hat bereits die Oder überquert, und die Amerikaner stehen an der Elbe. Der Weg führt durch das zerstörte Dresden bis an den Stadtrand von Berlin, das schon von weitem als schwarze Rauchwolke am Horizont zu erkennen ist.

Der dritte Teil von Theodor Plieviers Weltkriegstrilogie „Moskau“, „Stalingrad“, „Berlin“ setzt ein, als der letzte Akt des Dritten Reiches sich dem Ende nähert. Kaleidoskopartig schildert der ehemalige Journalist die letzten Tage der Reichshauptstadt, vom Splitterschutzgraben hinter einer Zehlendorfer Villa bis zum Konferenzraum im Führerbunker. Ebenso groß die Spannweite der auftretenden Personen: Am Rande des historischen Abgrunds werden vom einfachen Soldaten bis zum General, vom Zivilisten bis zum Minister exemplarische Figuren und ihre inneren Konflikte beschrieben. Während die einen sich noch an die Durchhalteparolen aus dem Volksempfänger klammern, denken die anderen längst daran, wie man sich glimpflich in die Zeit nach der „Stunde null“ hinüberretten kann. Davor war der Leser mit der Wehrmacht bis vor die Tore Moskaus vorgerückt, wo der Vormarsch der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie zum Erliegen kam. Das Ende des Russlandfeldzugs begann dann mit dem Untergang der sechsten Armee vor Stalingrad.

Plieviers bereits in den Zwanzigerjahren in dem zeitkritischen Buch „Der Kaiser ging, die Generäle blieben“ erprobter Reportagestil mischt hier noch einmal Fakten und Fiktion auf epischer Breite zu einem realistischen, den Leser fesselnden Mahlstrom. Über der Trilogie steht dabei die große Frage „Quo vadis, Europa?“ – und der Berlin-Band spinnt auf der Suche nach einer Antwort den Erzählfaden weiter bis zum 17. Juni 1953, dem Tag, als erneut russische Panzer durch die Stadt rollten. Im Zeitraffer illustriert Plievier die Bedeutung von Walter Ulbrichts berühmt-berüchtigter Parole: „Es muss demokratisch aussehen, doch die Partei muss alles in der Hand haben.“ Die planvolle Durchsetzung der kommunistischen Vorherrschaft in Ostberlin und der sowjetisch besetzten Zone während der ersten Nachkriegsjahre lässt den anfänglichen Optimismus von Pliviers Romanfiguren bald in die bittere Erkenntnis umschlagen, wieder einmal auf der falschen Seite zu stehen.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das gibt Plievier deutlich zu verstehen, war die Chronik der deutschen Fehlentwicklungen im 20. Jahrhundert noch nicht abgeschlossen. Selbst hatte der 1933 in die UdSSR emigrierte proletarische Vorzeigeautor relativ schnell die Konsequenzen gezogen: 1947 floh er nach Westdeutschland. Die erst nach dem Seitenwechsel entstandenen Romane „Moskau“ und „Berlin“ sind deswegen neben dem authentischen Erzählstil – Pliviers an der Reportage geschulter Realismus, der den Leser hautnah in den verwirrenden Strudel der Ereignisse zieht, hatte zuvor die kommunistische Partei bewogen das Stalingrad-Buch in Auftrag zugeben – war nun einer ganz anderen Tendenz verpflichtet: Hier zeigt sich Theodor Plievier als vehementer Stalinismuskritiker.

Ein Freund des Adenauer-Deutschlands ist der in Berlin-Wedding aufgewachsene Renegat deswegen jedoch auch nicht geworden. Als der Abschlussband der Trilogie 1954 erschien, war er bereits in die Schweiz übergesiedelt und plante eine weitere Fortsetzung mit dem Titel „Bonn“, die bestimmt interessant geworden wäre. Doch starb der gesundheitlich angeschlagene Autor bereits kurz darauf.

ANSGAR WARNER