Polens Amazonien

Wenn sich die Biebrza im Frühjahr aus ihrem Flussbett wälzt und ein einzigartiges Sumpfparadies hinterlässt, sind alle zufrieden: Biologen, Bauern und Touristen

von GABRIELE LESSER

Die Biebrza tritt jedes Jahr im Frühjahr über die Ufer. Aber die Furcht, dass es zu einer Hochwasserkatastrophe kommen könnte, kennen die Menschen hier nicht. Warum auch? Genau das ist ja das Einzigartige an diesem Naturschutzgebiet: Die Biebrza im Nordosten Polens ist einer der letzten „freien“ Flüsse Europas. Von keiner Menschenhand begradigt, schlängelt sie sich durch Wiesen und Täler und verwandelt im Frühjahr weite Landstriche in große Seen. Ende März sprießen die ersten Sumpfdotterblumen, Anfang April leuchten die Sümpfe in kräftigem Goldgelb. Üppig hält das Frühjahr Einzug. Und mit dem Frühling kommen die Zugvögel zurück aus Afrika und Asien. Dieses Naturereignis lockt jedes Jahr hunderte von Vogelfreunden aus aller Welt in den Biebrzanationalpark.

Bereits 1968 gab es Versuche, den Fluss und die ihn umgebenden Sumpflandschaften als Nationalpark zu schützen. Doch damals wollten die meisten Bauern den „Sumpf vor der Haustür“ einfach nur trockenlegen, um ihn landwirtschaftlich nutzen zu können. 1993 war es endlich so weit: Im September wurde der mit sechzigtausend Hektar größte Nationalpark Polens geschaffen. In seiner Mitte liegt das Rote Moor, das bereits seit 1925 Naturschutzgebiet ist, um den Nationalpark herum entstand eine Schutzzone von noch einmal fast siebzigtausend Hektar.

Die Anfänge waren schwierig. Mehrere Orte stritten um den Sitz der Nationalparkdirektion. Die Mitarbeiter des Parks kündigten nach längerem Hickhack dem Direktor die Gefolgschaft auf. Und am Ende hatten auch die Dorfbewohner im Nationalpark die Nase voll. Es gab Sumpfbrände. Fische starben an einer unerklärlichen Eisenvergiftung. Die Bauern, denen 46 Prozent des Landes im Park gehören, begannen wieder mit Rodungsarbeiten. Erst nachdem der World Wildlife Fund for Nature (WWF) Ende der neunziger Jahre sein erstes Büro in Polen eröffnet hatte und Adam Sienko, der sozusagen „im Sumpf“ groß geworden war, die Leitung des Biebrzanationalparks übernahm, ging es aufwärts.

In einem seiner ersten Interviews erklärte Sienko damals: „Es ist sehr viel zu tun. Vor allem will ich den Menschen hier den Sinn des Parks klar machen. Die meisten verbinden nur Verbote mit ihm. Der Park muss aber so funktionieren, dass die Menschen auch von ihm profitieren.“ Seither hat sich viel getan. Bei der EU werden Gelder beantragt, die der gesamten Region zugute kommen – für ein ökologisches Abfallkonzept etwa, für die Modernisierung von Kläranlagen oder die Förderung des Ökotourismus.

Die vor einem Jahr vom WWF und der Direktion des Parks gegründete Biebrzahochschule lockt mit ihren regelmäßigen Veranstaltungen immer mehr „Biebrzaner“ an. Seit November gibt es sogar für die Kleinsten kindgerechte Informationen: In der Zeitschrift Unsere Biebrza finden kleine „Sumpf-Fans“ spannendes Geschichten über das Leben der Moorfrösche oder Kraniche.

Touristen lockt es meist im Frühjahr oder Herbst in den Biebrzanationalpark – wenn zehntausende von Vögeln auf ihrer Reise nach Westen im Nordosten Polens Rast machen oder wieder Richtung Afrika und Asien aufbrechen. Ein besonderes Schauspiel bietet jedes Mal der „Tanz der Kraniche“ oder die Balz der Birkhühner. Im Biebrzatal haben Ornithologen rund 270 Vogelarten ausgemacht, darunter sind rund 180, die auch im Nationalpark brüten. In den Sümpfen leben so seltene Vögel wie der Singschwan oder die Pfeifente, aber auch Doppelschnepfen, Seggenrohrsänger, Weißrückenspecht, Weißflügelseeschwalbe, Schwarzstorch, Schell- und Schreiadler, Uhu und Seeadler.

Am besten beobachtet man die Vögel mit einem Führer, der die Vögel benennen kann. Sechs markierte Wanderwege gibt es und natürlich die zur Vogelbeobachtung auf dem Wasser besonders geeigneten Hausfloße. Das ungewohnte Staken kann anfangs zwar Muskelkater verursachen, doch schon am zweiten Tag geht es besser: Man hat das Floß im Griff und treibt mit zwei bis drei Kilometern pro Stunde durch das sich bis zum Horizont streckende Biebrzatal. Die Biebrzasümpfe sind nicht nur ein Vogelparadies, sie gelten auch als das Königreich des Elchs. In anderen Gebieten ist er schon vor Jahrzehnten verschwunden, aber hier konnte er, im grenzenlosen und schwer zugänglichen Naturschutzgebiet Rotes Moor, überleben. Daneben gibt es Biber und Fischottern, Rehe und Hirsche, Marderhunde und Mauswiesel. Sogar Wölfe leben in dieser Gegend. Doch sie sind zu scheu, als dass man sie zu Gesicht bekäme. Aber man kann sie hören. Abends, kurz nach dem Einbruch der Dunkelheit, klingt ihr Heulen durch die Sümpfe.

Die Zeit in den Orten rund um die Biebrza scheint stehen geblieben zu sein. Nach zahlreichen missglückten Versuchen, eine mechanisierte Landwirtschaft einzuführen, sind fast alle Bauern wieder zu den traditionellen Methoden des Anbaus zurückgekehrt. Im Moor lässt sich das Heu eben nicht maschinell einfahren. Ähnliches gilt auch für das traditionelle Kunsthandwerk. Auf den Märkten in den neun Biebrzagemeinden kann man Decken in überlieferten Mustern kaufen, handgetöpfertes Geschirr oder einfache Rucksäcke aus Korb. Diese Strukturen gilt es auch für die Zukunft zu erhalten.

Informationen zum Nationalpark und Organisation von geführten Touren unter www.biebrza-explorer.com.pl; E-Mail: nature@biebrza-explorer.com.pl GABRIELE LESSER ist Polenkorrespondentin der taz