Nulltoleranz für bekiffte Autofahrer

Bei Cannabiskonsum ist der Gesetzgeber unerbitterlich. Autofahrern wird der Führerschein weggenommen, selbst wenn der Betroffene nie unter Drogeneinfluss gefahren ist. Mit wissenschaftlichen Studien ist diese Praxis nicht zu rechtfertigen

Wird Cannabis gefunden, erfolgt eine Meldung an die Führerscheinstelle

von VOLKER WARTMANN

Mehr als drei Millionen Menschen hierzulande konsumieren gelegentlich oder regelmäßig Cannabis. Ihnen droht nach der derzeitigen Gesetzeslage und Rechtspraxis der Entzug des Führerscheins, selbst wenn sie nie unter dem Einfluss von Cannabis ein Fahrzeug geführt haben.

Möglich macht dies die derzeit gültige Fahrerlaubnisverordnung, die noch zu Kohl-Zeiten verschärft wurde und Anfang 1999 in Kraft trat, ohne von der Rot-Grünen Regierung korrigiert zu werden. In Folge dieser Verordnung hat sich in den vergangenen Jahren eine Rechtspraxis etabliert, die praktisch jedem Cannabiskonsumenten die Fahreignung abspricht.

Wer heute mit einem Krümmel Haschisch in der Tasche oder einem Joint an den Lippen von der Polizei erwischt wird, kann seinen Führerschein schneller los sein, als ihm lieb ist. Egal, ob er oder sie zu dieser Zeit gerade im Zug, im Bus, vor einer Diskothek oder an einem Baggersee saß – und gar nicht am Steuer eines Autos.

„Die Begründung in der Fahrerlaubnisverordnung, warum Cannabiskonsumenten nicht in der Lage sein sollen, Auto zu fahren, ist veraltet und wissenschaftlich nicht haltbar“, sagt Franjo Grotenhermen. Grotenhermen ist Mitarbeiter des Kölner Nova-Instituts und ein international renommierter Cannabisexperte. Die empirischen Fakten machen eine Änderung der Fahrerlaubnisverordnung zwingend notwendig, findet Grotenhermen. Als Beleg führt er umfangreiche wissenschaftliche Studien an. So wurden im Auftrag des US-amerikanischen Verkehrsministeriums in einer Studie die Blutproben von 1.822 Fahrern untersucht, die in den USA bei Verkehrsunfällen getötet worden waren. Das Ergebnis zeigte, dass Autofahrer, die Cannabis konsumiert hatten, so wahrscheinlich Unfallverursacher wie drogen- und alkoholfreie Fahrer waren. Der Prozentsatz alkoholisierter Fahrer lag weit darüber.

Auch das südaustralische Verkehrsministerium ließ die Schuldfrage bei verletzten Autofahrern untersuchen. 2.500 Fahrern wurde innerhalb von zwei Stunden nach dem Unfall Blutproben entnommen. Diese wurden auf Alkohol, Tetrahydrocannabinol (THC), dem Hauptwirkstoff in Cannabis, und andere Drogen untersucht. Von den Fahrern, die frei von Alkohol oder anderen Drogen waren, wurden 54 Prozent als unfallverursachend eingestuft. Von den Fahrern mit Alkoholkonzentrationen über 0,5 Promille waren 90 Prozent an dem Unfall schuld. Bei den Fahrern, die nur Cannabis genommen hatten, war der Anteil der Unfallverursacher jedoch genauso groß wie bei den drogen- und alkoholfreien Fahrern.

Autofahrer, die Cannabis allerdings in Kombination mit Alkohol konsumiert hatten, wiesen das gleiche Verschuldensniveau auf wie Fahrer, die die gleiche Menge Alkohol, jedoch kein Cannabis intus hatten. Auch eine deutsche Studie im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen kam zu einem ähnlichen Ergebnis.

„Autofahrer, die Cannabis konsumiert haben, können durch die Droge in ihrer Fahrtüchtigkeit durchaus beeinträchtigt sein“, sagt Grotenhermen. Unter Cannabiseinfluss können die Reaktionsschnelligkeit und Aufmerksamkeit sowie die Fähigkeit der Bewegungskoordination nachlassen.

„Dieses Manko versuchen sie jedoch durch eine wesentlich besonnenere und vorsichtigere Fahrweise zu kompensieren. Sie sind sich ihrer verminderten Leistungsfähigkeit bewusst und fahren entsprechend situationsangepasst“, berichtet Grotenhermen. „Nach gültiger Rechtslage wird Cannabiskonsumenten die Eignung zum Autofahren jedoch generell abgesprochen, obwohl die allermeisten verantwortungsvoll mit ihrem Konsum umgehen.“

Alkoholkonsum übt gegenteilige Effekte aus. „Angetrunkene fahren meist aggressiver und unbeherrschter und sind daher eine weitaus größere Gefahr im Straßenverkehr“, so Grotenhermen.

Der Cannabisexperte betont, dass die Illegalität einer Droge nichts darüber aussage, inwieweit sie die Fahrtüchtigkeit beeinträchtige. Cannabis diesbezüglich mit Kokain und Ecstasy in einen Topf zu werfen, mache „keinen Sinn“. „Bei aufputschenden Mitteln wie Kokain und Ecstasy ist der Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wesentlich größer als bei Cannabis“, sagt Grotenhermen.

Er plädiere nicht dafür, Cannabiskonsum am Steuer generell freizugeben, betont der Mediziner. „Jedoch sollte ein Grenzwert festgelegt werden, der mit dem Promillewert beim Alkohol vergleichbar wäre.“ Der gesetzliche Grenzwert für THC liegt zur Zeit aber bei null. Grotenhermen: „Das heißt, jede noch so kleine Menge von THC im Blut gilt als Nachweis einer akuten Berauschung.“

Die Abbauprodukte von THC können jedoch noch nach mehreren Tagen im Blut, nach mehreren Wochen im Urin und nach mehreren Monaten im Haar nachgewiesen werden. Die Beeinträchtigung nach dem Genuss eines Joints dauert jedoch nur selten länger als zwei bis drei Stunden. Dem 0,5-Promille-Wert bei Alkohol entspräche ein Grenzwert von etwa 10 Millionstel Gramm THC pro Milliliter Blut, so Grotenhermen: „Bei hohen Konzentrationen muss auch bei Cannabis mit einem erhöhten Unfallrisiko gerechnet werden, weil die Beeinträchtigung dann nicht mehr kompensiert werden kann.“

Die Erkenntnisse über das tatsächliche Gefährdungspotenzial von Cannabis im Straßenverkehr spielen in der Rechtspraxis keine Rolle. Nach Ansicht des Ludwigsburger Rechtsanwalts Michael Hettenbach sind Cannabiskonsumenten einer „erheblichen behördlichen Willkür ausgesetzt“. „Auf der Zugstrecke München–Stuttgart beispielsweise oder vor Diskotheken fordern Polizisten nach Gutdünken junge Leute auf, Personalausweis und Tascheninhalt vorzuzeigen“, so Hettenbach. „Bei wem die Uniformierten Cannabis finden, der wird der Führerscheinstelle gemeldet.“

„Angetrunkene fahren meist aggressiver und unbeherrschter“

Diese ordnet Drogenscreenings, ärztliche oder sogar neurologische Untersuchungen an, die in der Summe bis zu 300 Euro und mehr kosten können“, berichtet der Rechtsanwalt. Könnten anlässlich der Untersuchung Rechtszweifel nicht ausgeschlossen werden, drohe zudem eine medizinisch-psychologische Untersuchung (MPU) – zusätzliche Kosten: etwa 500 Euro. Der Betroffene muss diese Untersuchungen selbst bezahlen und kann gegen deren Anordnung keine Rechtsmittel dagegen einlegen.

„Wer sich der MPU verweigert oder wem bei dieser Untersuchung Cannabiskonsum nachgewiesen wird, dem wird der Führerschein abgenommen“, so Hettenbach. „Unabhängig davon, ob er unter dem Einfluss von Cannabis jemals Auto gefahren ist.“

Hettenbachs Ansicht zufolge wird „die Fahrerlaubnisverordnung als Ersatz für das mittlerweile liberalisierte Strafrecht missbraucht und zum Anlass genommen, Hexenjagd auf Cannabiskonsumenten zu machen“. Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 in einer Grundsatzentscheidung geurteilt, dass der Besitz „kleiner Mengen Cannabis für den Eigenbedarf“ in der Regel nicht zu Strafverfolgung führen darf.

Für Hettenbach wird „mittels der Fahrerlaubnisverordnung versucht, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ad absurdum zu führen“.

Nach Auffassung von Lorenz Böllinger, Professor für Strafrecht an der Universität Bremen, ist die Regelung der Fahrerlaubnisverordnung „verfassungswidrig“. Sie stelle einen „übermäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht“ dar und verletzte das Gleichheitsprinzip, weil sie Alkohol- und Cannabiskonsumenten ungleich behandele, so Böllinger.

„Würden Biertrinker und Weinliebhaber gleich behandelt wie Cannabiskonsumenten, stünde in Deutschland wahrscheinlich ein Volksaufstand bevor“, sagt Anwalt Hettenbach. „Dann könnte nämlich jeder, der in einem Supermarkt Bier oder Wein kauft, daraufhin von der Polizei aufgegriffen und einer medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) unterzogen werden, – mit der Androhung des Führerscheinentzugs.“