Nicht schneller, besser lernen

Seit der Pisa-Studie herrscht in der Bildungspolitik Aktivismus. Wir müssen unsere Kinder früher einschulen, sagen viele. Doch das nutzt nur, wenn Kitas und Grundschulen enger zusammenarbeiten. Ein Plädoyer für mehr Vernetzung – und gegen Notenfetischismus

Manche pädagogische Institutionen leiden unter Abgrenzungszwang – zu Lasten der Kinder

Unbehagen mit der Art, wie die Politik in Deutschland mit den Kleinsten umgeht und ihre frühkindliche Förderung vernachlässigt, hat es schon vor der Pisa-Studie gegeben. So verdanken wir einer Veröffentlichung der Industrieländer-Organisation OECD aus dem Jahr 2000 den Hinweis, dass in Deutschland der Grundschulbereich im OECD-Vergleich unterfinanziert ist, während die deutsche gymnasiale Oberstufe finanziell vergleichsweise üppig ausgestattet ist. Dank des Pisa-Schocks ist jetzt endlich auch in die Politik Bewegung gekommen.

Aber Vorsicht vor Schnellschüssen! Eine Vorverlegung der Einschulung mit fünf Jahren, jetzt von vielen Politikern gefordert, ist nicht die Verbesserung, die wir brauchen. Die Kids einfach nur früher in die Schule zu schicken, bedeutet noch kein Mehr an Förderung, um Ungleichheiten zu vermindern. Pädagogisch verantwortbar ist die Früheinschulung erst, wenn Kita und Grundschule besser zueinander passen.

Zu verändern ist vieles – und das stellt auch das Selbstverständnis von ErzieherInnen und GrundschullehrerInnen in Frage.

– Der Elementarbereich braucht Lehrpläne, die wiederum mit den Lehrplänen der Grundschule abzustimmen sind. Die beiden Institutionen müssen zusammenarbeiten, das geht nur mit verbindlichen Absprachen.

– Es kann hilfreich sein, die Ausbildungsschwerpunkte für beide Berufe anzugleichen: Förderdiagnostik und pädagogische Fördermöglichkeiten müssen stärker in den Focus rücken.

– Insgesamt müssen die ErzieherInnen besser pädagogisch qualifiziert werden.

– Die Rolle der Eltern und der Elternarbeit muss neu überdacht werden.

– Die sonstigen Förderstrukturen, etwa Schulkindergärten und Sonderschulen, gehören in die Integrationsdebatte hinein.

– Der Kita-Bereich sollte dem Bildungsressort zugeschlagen werden, um den Kompetenzstreit zwischen Jugend und Schule zu überwinden.

Der Deutschen Bildungsrat hat schon vor gut dreißig Jahren die traditionelle Abschottung von Jugendhilfe und Schule kritisiert. Bis heute ist das Abgrenzungsbedürfnis der Institutionen voneinander groß. Viele ErzieherInnen lehnen es ab, sich über die Anforderungen der Grundschule Gedanken zu machen; umgekehrt geben auch Kita-Leiterinnen zu, dass manche Erzieherin ihre Kinder eher dazu ermutigt, im Schlamm zu spielen als mit Zahlen spielerisch umzugehen.

Ganztagsgrundschulen sind kein waghalsiges Experiment – es gibt 25 Jahre Erfahrung damit

Dagegen verhält sich die Grundschule gegenüber der Kita mancherorts so, wie sie selbst nicht gerne von den weiterführenden Schulen behandelt werden möchte, nämlich als „Abnehmer“ mit der Erwartung, dass die Kinder schulfähig zu ihr kommen. Auch die unterschiedlichen Ausbildungen und Bezahlungen haben nicht gerade dazu beigetragen, dass eine Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe entstanden wäre.

Dennoch: In beiden Bereichen herrscht inzwischen die Einsicht vor, dass Reformen den Kindern zuliebe nötig sind. Jetzt ist die Politik gefordert. Lange hat der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für jedes Kind die Diskussion dominiert – jetzt wird es Zeit, über die Kindergarten-Qualität zu sprechen. Der Bildungsauftrag der Kitas muss sich zukünftig daran orientieren, jedes Kind individuell und differenziert zu fördern sowie seine Persönlichkeit zu entwickeln; der Lehrplan hat auch den Übergang zur Grundschule vorzubereiten.

Umgekehrt muss der Lehrplan der Grundschulen alle Fünfjährigen am Ende ihrer Kita-Zeit „abholen“ und auf die Rückstellung der so genannten nicht schulfähigen Kinder in den Schulkindergarten verzichten. Diese weitverbreitete Praxis bedeutet eine unproduktive Zeitverschwendung und Entmutigung für die Kinder, die zudem in der Regel sozial benachteiligt sind, wie die Pisa-Studie belegt.

Wenn ErzieherInnen und SonderschulpädagogInnen in die Arbeit der Grundschule einbezogen sind, werden zukünftig nicht nur Rückstellungen überflüssig, sondern auch Sonderschulüberweisungen weitestgehend vermieden. Letzteres wird in der integrativen Grundschule in Hamburg schon mit Erfolg praktiziert. Alle Kinder, auch solche mit Lern- und Sprachproblemen, auch solche mit Verhaltensauffälligkeiten, werden ohne sonderpädagogisches Überprüfungsverfahren, die die Kinder als „behindert“ etikettiert, in die Grundschule ihres Bezirks aufgenommen.

Die Eingangsphase der Grundschule wird neu gestaltet nach der Devise, dass kein Kind im gleichen Tempo das Gleiche lernen muss. Kinder verweilen –je nach ihren individuellen Lernfortschritten – ein, zwei oder drei Jahre in der Eingangsphase. Sie ersetzt das bisherige letzte Jahr in der Kita,den Schulkindergarten und das bisherige erste Schuljahr. Die Kinder lernen nicht in Jahrgangsklassen, sondern in altersgemischten Gruppen.

Der Entwicklungsabstand zwischen fünf- und sechsjährigen Kindern ist auffällig groß. Erst aus der Altersmischung mit großen Entwicklungsunterschieden ergeben sich die vielfältigen unterstützenden Lernanreize und Lernanlässe, die für systematisches Lernen in der Grundschule für alle Altersgruppen pädagogisch nutzbar gemacht werden können.

Lernen in altersgemischten Gruppen setzt keine Schulfähigkeit voraus, sondern ermöglicht sie. Für jedes Grundschulkind wird ein individueller Förderplan erstellt. Standardisierte Notenzeugnisse passen nicht zu einer solchen Grundschulkonzeption, sondern nur individuelle und differenzierte Lernberichte als Rückmeldung für das Kind und seine Eltern.

Ganztagsgrundschulen können Kindern mit sozialer Benachteiligung besonders gut helfen. Hier brauchen wir nicht bei Null anzufangen, sondern können von den Erfahrungen der Bielefelder Laborschule profitieren. Weil sie ihre Erfahrungen über mehr als 25 Jahre auch gründlich reflektiert und wissenschaftlich begleitet, betritt man bei einer Orientierung an ihrem Modell gesichertes schulpädagogisches Terrain.

Die neue Grundschulkonzeption, die wir brauchen, kommt ohne Notenstandardisierung aus

Eltern können durch solche Reformen besonders gut mitarbeiten, denn Kitas und Grundschulen in räumlicher Nachbarschaft sollten sich vernetzen und gemeinsam die Elternarbeit aktivieren. Ohne Einbindung der Eltern ist pädagogisch wirksame Bildungsarbeit nicht möglich. Eltern sind die Experten ihrer Kinder. Dafür brauchen sie in unterschiedlicher Weise Unterstützung, Beratung, Informationen und Bildungsmöglichkeiten.

Ganz wie die LehrerInnen und ErzieherInnen.

BRIGITTE SCHUMANN