Studie: Richter schützt vor Überwachung nicht

■ Der Bremer Jurist Otto Backes hat die Praxis der Telefonüberwachung unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Eine richterliche Kontrolle findet faktisch nicht statt / Richter unterschreiben, was von ihnen verlangt wird

Otto Backes (65) war sieben Jahre lang Richter am Bremer Landgericht und Professor für Strafrecht an der Bremer Universität, bevor er nach Bielefeld berufen wurde. Im Auftrag der Volkswagenstiftung hat er unter anderem die Effektivität der richterlichen Kontrolle bei Telefonüberwachungen untersucht. Dafür wertete er bei vier Staatsanwaltschaften – drei in einem Flächen- und eine in einem Stadtstaat – alle Telefonüberwachungen der Jahre 1996 bis 1998 aus: insgesamt 403 Fälle. Am Samstag zog er auf dem Strafverteidigertag in Mainz eine erste Bilanz.

taz: Wer darf eine Telefonüberwachung anordnen?

Otto Backes: Normalerweise nur ein Richter, wenn aber Gefahr im Verzug ist, auch ein Staatsanwalt: Das betrifft etwa 20 Prozent der Fälle. In jedem Fall aber müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens: Die Maßnahme darf nur bei bestimmten Straftaten überhaupt angewendet werden. Der Richter oder Staatsanwalt muss diese „Katalogtat“ in dem Anordnungsbeschluss explizit nennen. Zweitens muss er in jedem Einzelfall den Tatverdacht begründen. Und drittens ist eine Telefonüberwachung nur dann zulässig, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, an Beweise zu kommen.

Werden diese Voraussetzungen denn eingehalten?

Das kommt darauf an: In den 20 Prozent der Fälle, in denen die Staatsanwälte Gefahr im Verzug sahen und deswegen die Überwachung selbst angeordnet haben, begründeten sie das in der Regel gut. Bei den Richtern ist das völlig anders. Die treffen eigentlich keine eigenständige Entscheidungen: In 398 von 399 Fällen hat der Richter so entschieden, wie es der Staatsanwalt gewollt hat. Nur in einem einzigen Fall hat er abgelehnt. Wenn die Staatsanwälte den Beschluss für die Anordnung der Telefonüberwachung schon so formuliert hatten, wie es der Richter hätte machen müssen, dann hat dieser die Anordnung auch genau so unterschrieben – ohne nur ein einziges Wort zu ändern.

Vielleicht hatte der Staatsanwalt gute Arbeit geleistet?

Könnte man meinen. Ist aber nicht so: In vielen Fällen hat nämlich der Staatsanwalt die Katalogtat gar nicht genannt. Oder er hat den Tatverdacht nicht begründet. Oder er hat nicht dargelegt, warum keine anderen Mittel der Beweiserhebung erfolgsversprechend sind. In all diesen Fällen hat der Richter das einfach übernommen, ohne zu gucken, ob es falsch oder unvollständig war. Das zeigt, dass er blind unterschrieben hat.

Der sogenannte „Richtervorbehalt“ gilt eigentlich als ein Schutz vor Missbrauch.

So sollte das zumindest sein. Denn der Betroffene erfährt ja selbst hinterher noch nicht einmal in der Hälfte der Fälle, dass er abgehört wurde. Davon abgesehen gibt es auch gar keine Möglichkeit, die Überwachung im Nachhinein rechtlich anzugreifen. Deswegen hat der Gesetzgeber vorgeschrieben, dass schon bei der Anordnung der Überwachungsmaßnahme ein Richter eingeschaltet wird. Dieser richterliche Schutz setzt natürlich eine eigenständige Entscheidung des Richters voraus. Und genau diese trifft der Richter nicht.

Von wem geht die Initiative für die Telefonüberwachungen aus?

In den meisten Fällen von der Polizei. Bei den von uns untersuchten Abhör-Aktionen kam der Anstoß dazu allerdings in 18 Prozent der Fälle von einem V-Mann.

Stimmt Sie das bedenklich?

Man muss sich bewusst sein, dass V-Leute ja nicht immer nur aus rechtlichen Erwägungen diese Anzeige machen, sondern dass da manchmal sehr unlautere Gründe eine Rolle spielen. Deswegen ist es dringend notwendig, dass sie kontrolliert werden. Dafür wäre eigentlich der Richter zuständig. Aber wie ich schon sagte: Der Richter fällt als Kontrollorgan bei der Anordnung der Telefonüberwachung faktisch aus.

Wer ist denn von den Überwachungsmaßnahmen betroffen?

In 99 Prozent der Fälle private Anschlüsse – allerdings nicht immer der des Beschuldigten. In mehr als der Hälfte der Fälle werden auch Anschlüsse von anderen Personen, die etwa im gleichen Haus leben, überwacht. Letztlich sind das alles Unschuldige. Auch öffentliche Telefone werden abgehört.

Wie effektiv sind denn die Abhörmaßnahmen?

Das ist unterschiedlich. Im Zusammenhang mit Betäubungsmittel- und mit organisierter Kriminalität sind sie in der Regel recht erfolgreich, bei anderen Delikten jedoch weniger. In den Verfahren, bei denen die Überwachung erfolgreich eingesetzt werden konnte, werden meist Strafen so um die drei Jahre verhängt. Aber in 20 Prozent der Fälle sind die Verfahren letzt-endlich eingestellt worden – wegen Bedeutungslosigkeit oder weil nichts nachzuweisen war.

Hören alle Staatsanwaltschaften gleich häufig ab?

Nein. Die politischen Delikte etwa machen bei manchen fast 30 Prozent der Überwachungen aus. Anderswo ist in drei Jahren nicht wegen eines einzigen politischen Deliktes überwacht worden.

Es geht also auch ohne.

Oder: Die kriminalpolitische Einstellung der Staatsanwaltschaft ist maßgebend.

Sollte man die Telefonüberwachung abschaffen?

Nein, aber man sollte sie sehr viel mehr einschränken. Der Katalog der Straftaten, bei denen die Abhörmaßnahme angeordnet werden darf, könnte erheblich reduziert werden. Und der Richter muss seine Entscheidungen auf jeden Fall eigenständig begründen. Hilfreich könnte ein politisches Gremium sein, dem Staatsanwaltschaften und Richter Bericht erstatten müssten – ähnlich wie bei den Geheimdiensten. Wenn nur ein Richter oder sogar ein Staatsanwalt allein über eine Telefonüberwachung entscheiden darf, dann schießt der zu schnell aus der Hüfte und ordnet das an. Wenn er gezwungen wäre, das auch zu verantworten, und wenn berichtet würde, wer in welcher Staatsanwaltschaft bei welchen Delikten wie häufig überwacht, dann würde es zumindest eine gewisse Transparenz geben.

Fragen: hoi