vorlesungskritik
Irgendwie hängt doch alles zusammen
: Die Niederungen der Großhirnrinde

„Das Ich ist unrettbar“, wusste schon vor hundert Jahren der österreichische Physiker und Philosoph Ernst Mach und fügte hinzu, bald würde man erkennen, dass das zentrale Element unserer Existenz nicht die Wahrheit, sondern die Illusion sei.

Einen ähnlich unrettbaren Eindruck wie das historische Ich machten kürzlich die Teilnehmer eines Psychologie-Kongresses in der Rost- und Silberlaube der Freien Universität. Unter dem Titel „Psychologische Konstruktionen – Politiken der Erkenntnis“ begaben sich hunderte von Gästen in dem Labyrinth der teppichgedämpften Flure, Quergassen und Wendeltreppen auf die Suche nach dem Sinn. So mancher Teilnehmer mag bei seiner Odyssee durch die Erlebnisarchitektur aus immergleichen Funktionsräumen einen fruchtbaren Denkanstoß in punkto postmoderner Identität bekommen haben.

Im Eröffnungsvortrag der an der Universität Sydney lehrenden Psychologin Valerie Walkerdine ging es eigentlich auch genau darum: Irgendwie hängt doch alles zusammen, Postmoderne, Neoliberalismus, Psychologie. Die eloquente Vertreterin der „kritischen Psychologie“ wurde mal wieder ihrem Anspruch gerecht, die großen Weltfragen unter einen Hut zu bekommen, ohne Gender-Fragestellungen gänzlich zu vernachlässigen. Nach dem Genuss der zentralen Thesen zum gegenwärtigen Stand des gesamtgesellschaftlichen Zersplitterungsprozesses und der individuellen Entfremdung schwärmten die Teilnehmer zu den zahlreichen Symposien und Einzelvorträgen aus.

Am ersten Tag diskutierten etwa die altgedienten FU-Wissenschaftler Wolf-Dieter Narr und Eckehart Krippendorf mit zwei zugereisten Kollegen über Terror, Krieg und den Diskurs der Macht – der 11. September hat die Verfechter der „kritischen Universität“ offenbar mit einer ganzen Menge zusätzlicher Munition versorgt. Nebenan beschäftigten sich derweil zwei deutsche und ein australischer Psychologe mit der „Subjektivität in der Spätmoderne“. Konkreter wurden die Kollegen im Symposium zu Theorie und Praxis kultureller Grenzziehung: Dort ging es um die kulinarischen Identitäten in der grönländischen Hauptstadt Nuuk ebenso wie um die über das Essen hinausgehenden Selbstfindungsprozesse in Ostdeutschland. Am Abend rückte dann die kritische Psychologie der FU noch einmal ihren ja nicht mehr ganz so jungen Ansatz wortreich als „Ent-Unterwerfungs-Wissenschaft“ ins rechte Licht.

Doch keine Sorge, an den folgenden Tagen ging’s dann wirklich in die Niederungen der psychologischen Einzeldisziplinen. Von der Vision und Realität „Neuer Lernkultur an Schulen“ über unvermutete Verbindungen von Foucault und psychologischer Forschung bis hin zu Klassikern wie Körpererfahrung und Weiblichkeit in der Psychoanalyse oder gar hypno-systemisch fundierten Traumatherapiekonzepten rangierte das überbordende Angebot. Und da die Triebinstanzen der Seele zwischen J-, K- und L-Gang der Rost- und Silberlaube nicht verdrängt werden sollten, konnte man sich unter dem Titel „Schöner Ficken“ der Frage stellen, ob denn die Sexualpädagogik eher emanzipativ oder sozialtechnologisch daherkomme. Zum Abschluss des Kongresses regierte dann wieder die Großhirnrinde: Nicht nur die Bedeutung der Psychologie für die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft war Thema, sondern auch die Aushöhlung von Bildung und Wissenschaft. Ein konkretes Loch hatten die Teilnehmer auch gleich vor Augen: Unmittelbar vor dem Tagungsbüro öffnet sich eine fußballfeldgroße Baugrube, die einmal die von Norman Foster entworfene hirnförmige Kuppel der neuen philologischen Bibliothek aufnehmen soll. Ein Gehirn von solcher Größe mag sich auch mancher Zuhörer bei hundert Vorträgen an vier Tagen gewünscht haben. ANSGAR WARNER