Das Gorlebener Unentschieden

aus Hannover JÜRGEN VOGES

Die BI war klein, wusste, was an dem Tag passieren würde, und ahnte nicht, worauf sie sich einließ: Am 22. Februar 1977, vor 25 Jahren, verkündete Ernst Albrecht die „Standortentscheidung“ für das bundesdeutsche „Nukleare Entsorgungszentrum“ (NEZ). Ernst Albrecht (CDU) war damals Ministerpräsident von Niedersachsen und ist heute weitgehend vergessen. Der vorgesehene Standort, Gorleben, war damals ein vergessenes Kaff im abgelegensten, östlichsten Zipfel Niedersachsens und ist heute, so das Schlagwort von Hunderttausenden Demonstranten, „überall“. Bei Gorleben sollten Atommüllend- und Zwischenlager und eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) entstehen. Die Bürgerinitiative gegen das Vorhaben zählt gerade 40 Aktivisten. Schon drei Wochen später demonstrieren 20.000.

Widerstand – hier nicht?

Vor 25 Jahren wurde die breite Öffentlichkeit von der Entscheidung überrascht. Intern hatte sich die CDU-Landesregierung jedoch schon ein halbes Jahr festgelegt. Der Salzstock Gorleben war bei einer Begutachtung aller norddeutschen Salzstöcke nach geologischen Kriterien zwar gar nicht in die engere Wahl gekommen. An den drei vorausgewählten Standorten hatte es jedoch schon 1976 Demonstrationen und Besetzungen gegeben. Jetzt hoffte die Regierung, das gigantische Atomprojekt im damals noch von der DDR umrahmten Landkreis Lüchow-Dannenberg leichter durchsetzen zu können. Die Bevölkerung des Wendlands, einer dünn besiedelten, bäuerlich geprägten Gegend, die ihren Namen von den hier ansässigen Wenden oder Slawen herleitet, die bis ins 18. Jahrhundert noch ihre eigene, dem Kaschubischen verwandte Sprache hatten, galt als ausgesprochen konservativ. 60 Prozent fuhr die CDU bei Wahlen regelmäßig ein.

Die Landesregierung hatte sich verrechnet. Die Wendländer entdeckten auch ihr traditionell widerständisches Potenzial. Die angeblich CDU-treuen Bauern demonstrierten regelmäßig mit ihren Traktoren und wurden zu einem Markenzeichen des Protestes. Ein Vierteljahrhundert lang haben die einheimischen AKW-Gegner mit zuweilen kräftiger Unterstützung von außerhalb die Entscheidung, ob ihr Landkreis Lüchow-Dannenberg zum deutschen Zentrum der Atommüllbeseitigung wird, zumindest offen halten können. Aus der anfangs kleinen BI ist die mit 800 Mitgliedern größte deutsche Bürgerinitiative geworden.

Den Landkreis frei von Atommüll zu halten schafften sie jedoch nicht. In der riesigen Halle für Castor-Behälter sind heute 20 von insgesamt 420 Stellplätzen belegt. Doch für jeden Transport waren über 10.000 Polizisten erforderlich, jede Lieferung kostete das Land Niedersachsen dadurch zweistellige Millionenbeträge. Regulär in Betrieb ist von allen Gorlebener Atomanlagen allein das Lager für Fässer mit schwach- und mittelaktiven Abfällen.

In den Achtzigerjahren versuchte man noch, jeden Transport ins Fasslager zu blockieren. Inzwischen sind die Transporte längst zur Gewohnheit geworden. Der Gorlebener Salzstock wird gegenwärtig nicht weiter erkundet, das erst zu Teilen fertige Endlagerbergwerk harrt der weiteren Entscheidungen. Das Moratorium, das die rot-grüne Bundesregierung im Rahmen des Atomkonsenses mit den AKW-Betreibern für das Endlagerprojekt vereinbart hat, symbolisiert geradezu das Unentschieden, das der hartnäckige Widerstand gegen eine mächtige Koalition aus Energiewirtschaft und Staat hat halten können. Sogar schon fertiggestellt und genehmigt und dennoch nicht in Betrieb ist die Pilotkonditionierungsanlage, in deren heißer Zelle hochradioaktiver Müll von einer Behälterart in die andere gepackt werden kann. Die Entscheidung über ein deutsches Atommüllzentrum im Wendland ist noch nicht endgültig gefallen. Der Widerstand kann weiter Anti-AKW-Geschichte schreiben.

Widerstand – gerade hier!

Den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage hat der Protest schon früh gänzlich verhindert. 1979 tuckerten rund 300 Landwirte mit ihren Treckern nach Hannover und wurden dort von über 100.000 demonstrierenden AKW-Gegnern begeistert empfangen. Danach war die WAA politisch gestorben. Charakteristisch für den Protest war von Anfang an die Vielfältigkeit der Widerstandsformen, die vom Protestlied über das regelmäßige Kaffeetrinken am Baugelände, Besetzung von Kränen oder Sendemasten, Blockaden, Platzbesetzungen bis hin zu Sachbeschädigungen und Anschlägen reichte, für die ein anonymer, dem autonomen Spektrum nahe stehender „Widerstand“ verantwortlich war. Im Protest engagierten sich unterschiedlichste Alters- oder gesellschaftliche Gruppen. Bei den Aktionen stellten in den Anfangsjahren zwar die „Auswärtigen“ oft die Mehrheit. Dennoch trug der Protest stets regionalistische Züge, war die Verteidigung des heimatlichen Wendlandes gegen außen eine Grundfigur.

Schon seit den Achtzigerjahren haben sich dann zahlreiche AKW-GegnerInnen von außerhalb gänzlich im Wendland niedergelassen. In dem strukturschwachen Gebiet kehrte sich die Tendenz zur Abwanderung gut qualifizierter jüngerer Menschen um. Eine vielfältige Alternativ- und Kulturszene entwickelte sich. Viele im Protest engagierte Landwirte wechselten in die Wachstumsbranche „ökologischer Landbau“. Letztlich modernisierte der Protest ein zuvor nur abgelegenes Gebiet. Kommunalpolitisch machte er der sicheren Vorherrschaft der CDU den Garaus.

In der Bürgerinitiative hat sich dabei nicht nur ein Schatz von Erfahrungen im Protestmanagement und ein geschickter Umgang mit den Medien herausgebildet. Lange erfolgreich war der wendländische Widerstand auch, weil er pragmatisch war: Die Gorlebener Atomanlagen wurden nicht nur auf der Straße mit Sitzblockaden, Demos oder Ankettaktionen bekämpft, sondern genauso in den Parlamenten und in den Gerichtssälen. Dass es daneben auch illegale Aktionen, Sachbeschädigungen und Brandanschläge gab, bei denen allerdings Menschen nicht gefährdet werden durften, freute viele wendländische AKW-Gegner.

Widerstand – wie weiter?

Gerade die Vielfalt droht dem Protest jetzt verloren zu gehen: Vor Gericht sind die Gorlebener Atomanlagen kaum noch Thema. Abgesehen vom Endlager, für das die Planfeststellung noch nicht begonnen hat, sind die Genehmigungsverfahren juristisch durchgesetzt. Mit dem Atomkonsens haben die wendländischen AKW-Gegner ihren parlamentarischen Bündnispartner verloren, haben sie den Schulterschluss mit den Grünen aufkündigen müssen. Wie wichtig die Unterstützung aus dem politischen Raum gerade auch für den Protest auf der Straße ist, hat der letzte Castor-Transport unter Beweis gestellt, bei dem die Polizei Blockaden der Castor-Strecken im Wendland von vornherein unterband. Ein solcher Polizeieinsatz wäre Anfang der Neunzigerjahre, als sich die Umweltministerin der rot-grünen Landesregierung noch selbst vor die Atommüllbehälter setzen wollte, schlicht undenkbar gewesen.