Im philharmonischen Kino

Eine gute Geschichte hört man eben immer gern: Sir Simon Rattle und die Philharmoniker, das Fünftett der Sänger und der Rias-Kammerchor bringen Joh. Seb. Bachs Johannespassion wirkungsstark aufs Podium der Philharmonie

Kurz nach der Gefangennahme gibt es einen Sekt im Foyer. Die Sänger und Sängerinnen, Orchester und Chor treten ab, der ausverkaufte Saal schichtet sich in die weitläufigen Hallen der Philharmonie um und geht flanieren. Wir sind im philharmonischen Kino, und es ist ordentlich was los: der schreiende Pöbel, ein kreuzverhörender Pilatus, dazwischen Jesus, der nur darauf wartet, dass er erst gegeißelt, dann ausgestellt und schließlich hingerichtet wird. Fehlt bloß noch die Überhöhung der Ereignisse durch das Christentum – aber das soll man nun verstehen: Warum Heilung von allen „Lasterbeulen“? Wieso dem Gefangenen „mit freudigen Schritten“ hinterhergehen? Warum sieht sein „blutgefärbter Rücken“ aus wie der Himmel?

Kino ist gut, Glauben ist schwer. Bachs Johannespassion, im Frühling 1724 geschrieben, ist eine Mischung aus Bericht, Theater und Anleitung zum Mitleidigsein. Später, in der Matthäuspassion, wird der Bogen noch etwas weiter gespannt. Da sprühen Blut und Schweiß einem quasi ins Gesicht, immer im Dienste des richtigen Verständnisses der Passion. Heute sind die meisten Menschen nicht mehr so fromm, aber eine gute Geschichte hört man eben immer noch gern. Sir Simon Rattle und die Philharmoniker, das Fünftett der Sänger und der Rias-Kammerchor bringen sie wirkungsstark aufs Podium: die geifernden Massen, eine sture Gesetzestreue, die seltsamen Gespräche zwischen Jesus und Pilatus.

Rechts hinten auf der Bühne sehen Ian Bostridge und Thomas Quasthoff und erzählen: wie der eine gefangen genommen wird, der andere ihn verurteilt. Wer unterm Kreuz steht und was danach passiert. Bostridge lehnt sich übers Pult und zieht den Zaubersagen-Faden fest an: „Schädelstätte“, hört man ihn raunen, „hebräisch Golgatha“. Aber seine Stimme macht viel mit; sie klingt leuchtender als früher noch: Bostridge ist ein guter Erzähler. Quasthoff, rechts neben ihm, gibt einen Pilatus, der dämlich lacht, wenn man ihn was fragt: „Bin ich ein Jüde?“

Und Sir Simon, ganz vorn, experimentiert. Er steht vor dem Orchester, legt den Stock aus der rechten Hand und lässt die Holzbläser-Liegetöne im Eingangschor noch viel langsamer und quälender klingen, als es überhaupt schon vorgesehen ist. Die großen Orchester- und Choreffekte macht er aufregend, die kontemplativen Stellen indes geraten oft ratlos und weich. Wenn der Chor – vor langer Zeit einmal der Gemeinde gleich – Stellung nimmt: „Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein, müsst unser Knechtschaft ewig sein.“ Ehrlich? Oder wenn sich die Sopranistin Juliane Banse fräuleingleich aufstellt und ihrem Herzen befiehlt, sofort in Tränen zu zerfließen: „Dem Höchsten zu Ehren.“ Hm. Ihre Gesangskollegen sind berühmt wie sie, haben alle Möglichkeiten, die oft perfide schweren Stücke perfekt zu geben. Aber Michael Chance mit seiner Porzellanstimme singt so andächtig-kunstvoll, dass es gar nicht mehr berühren kann, und der junge Rainer Trost gestattet seinem Tenor keinen Unschönklang. Sogar wenn es um Verrat geht. Petrus tut, als ob er den Freund nicht mehr kennt, und Bach lässt seinen Solotenor zur Strafe schreien, in einem schrecklichen, anstrengenden Stück: „Ach, mein Sinn, wo willt du endlich hin?“ Das „willt“ ist ganz berühmt, doch Trost singt unverdrossen „willst“, schaut in die Noten und hat alles unter Kontrolle.

Es hatte so bedeutsam werden sollen, große Musik, große Künstler und ein ausverkauftes Haus. Dann fällt hier plötzlich in der Stille ein Bleistift herunter, geht dort, zum Ende des wunderschönen Arioso „Betrachte, meine Seel'“ das Licht im Saal aus. Später, in der Alt-Arie von Tod und Auferstehung des „Held aus Juda“, kippt jemand in den letzten Reihen um. Und in den Pausen wird Sekt getrunken. Macht nichts, im Kino gibt es auch Popcorn. CHRISTIANE TEWINKEL