Schrankenwärter der Revolution

„Plötzlich merkten viele, dass die Socialist Alliance doch eine Rolle spielen kann“

Aus London RALF SOTSCHECK

Wer im Südwesten Englands wohnt und in London arbeitet, musste gestern am Arbeitsplatz übernachten. Um 12 Uhr mittags begann ein 24-stündiger Streik der Gewerkschaft Rail, Maritime and Transport (RMT), rund 200.000 Pendler sind davon betroffen. Ab Mittwochmittag liegen die Bahnen erneut still. RMT hat die beiden Streiks so gelegt, dass sie die größtmögliche Wirkung erzielen. Damit reagierte die Gewerkschaft auf den Versuch von South West Trains, des privatisierten Bahnunternehmens, vor zwei Wochen einen Warnstreik durch den Einsatz von Managern als Zugpersonal zu brechen. Ein Sprecher des Unternehmens bezeichnete die geplanten Streiks als „geradezu rachsüchtig“.

Nun wäre ein regional begrenzter Streik nicht besonders bemerkenswert, zumal sich die Passagiere seit der Privatisierung der Bahn ohnehin nicht mehr auf die Züge verlassen können. Doch die konservativen Zeitungen, das sind drei Viertel der britischen Presse, sind besorgt. „Der Sozialismus war eigentlich im Mülleimer der Geschichte gelandet“, schrieb Leo McKinstry in der Daily Mail. „Der Fall der Berliner Mauer und der Triumph der Marktkräfte Ende des vergangenen Jahrhunderts schienen die Totenglocken für die einst so mächtige Ideologie geläutet zu haben. Doch heute marschiert die extreme Linke wieder in Großbritannien.“

Die Times meint: „Die Marxisten sind so einig und aggressiv, wie sie es für eine Generation nicht mehr waren. In den vergangenen vier Monaten haben die Linksextremen neuen Mut geschöpft und neue Verbündete gefunden, und zwar durch Unterwanderung der Medien, durch entschiedenen Protest gegen den Anti-Terror-Krieg sowie durch Aktivismus innerhalb der Gewerkschaften.“

Steht Britannien vor der Revolution? Nicht ganz. Was Konservative wie Labour aber beunruhigt, ist die neue Militanz der Gewerkschaften. Streiks, so dachte man, seien seit Margaret Thatcher eine Aktionsform der Vergangenheit. Der RMT-Streik hat die Politiker überrascht. Die Hauptorganisatoren sind Bob Crow, der stellvertretende RMT-Generalsekretär, und der Lokomotivführer Greg Tucker. Letzterer kandidierte bei den Wahlen im vorigen Sommer erfolglos als parteiloser Sozialist. Das Management von South West Trains überwachte ihn danach besonders genau, und als er eine Minute lang die zulässige Höchstgeschwindigkeit um fünf Meilen pro Stunde überschritt, wurde er zur Fahrkartenkontrolle strafversetzt – bei halbem Lohn. Normalerweise wäre dafür höchstens eine Verwarnung fällig gewesen. Tucker und Crow gehören der Socialist Alliance an, einem Zusammenschluss der wichtigsten linken Organisationen Britanniens. Beide kandidieren in diesem Monat für die Spitzenposten in der Gewerkschaft. Der Dachverband Trades Union Congress (TUC) ist beunruhigt. In einer vertraulichen Mitteilung des Vorstands heißt es, Crow und Tucker „glauben, dass Streiks das Klassenbewusstsein der einfachen Mitglieder stärken“. Falls sie gewählt würden, werde bei der Eisenbahn das Chaos ausbrechen.

Rob Hoveman, der Generalsekretär der Alliance, sagt, der Bahnstreik habe der Organisation eine Menge Publizität eingebracht. „Das meiste war negativ“, sagt er, „aber zumindest erhöht sich unser Bekanntheitsgrad dadurch.“ Hoveman ist 46, schmächtig mit kurz geschorenen Haaren, er trägt einen dicken goldenen Ohrring und eine altmodische Brille. Früher hat er als Oberschullehrer gearbeitet, doch das ist lange her – genauso lange wie seine Mitgliedschaft in der Labour Party, die sieben Jahre andauerte. 1984 ging er in die Socialist Workers Party (SWP) und wurde stellvertretender Vorsitzender. Seit sich die SWP im vorigen Jahr der Socialist Alliance anschloss, ist er deren Generalsekretär.

Sein Büro liegt in einem Geschäftshaus im Ost-Londoner Stadtteil Whitechapel. Der kleine Raum mit undichten Fenstern ist mit Plakaten geschmückt: „Rettet den Planeten“ steht auf einem, „Kampf dem Rassismus“ auf einem anderen. Daneben sind rote Fahnen abgedruckt.

„Ironischerweise war es die von Labour fortgeführte Privatisierungspolitik der Tories, die den Gewerkschaften neues Leben eingehaucht hat, obwohl sie genau das Gegenteil bewirken sollte“, sagt Hoveman. „Sie haben so viele Leute entlassen, dass es an ausgebildeten Arbeitskräften mangelte. Die Lokomotivführer haben mehr Geld gefordert und bekommen, die anderen Arbeiter verlangen nun das gleiche. Die Anomalien in der Lohnstruktur haben den Streik ausgelöst.“

Fast alle relevanten linken Gruppen unterstützen die Eisenbahner und die Socialist Alliance, was niemand mehr für möglich gehalten hatte, denn auch in Großbritannien hat die Linke eine lange Geschichte der Spaltungen und der Marginalisierung. „Wir wollen das ändern“, sagt Hoveman. „Wir bauen auf den 80 Prozent auf, bei denen wir übereinstimmen. Wir kämpfen gegen den gemeinsamen Feind und nicht untereinander.“

Nur der trotzkistische Militant-Flügel, der von Premierminister Tony Blairs Vorgängern aus der Labour Party geworfen wurde, blieb dem Bündnis fern. Dafür sind jedoch zahlreiche Labour-Mitglieder beigetreten, die unzufrieden mit Blairs Rechtsruck sind. Am bekanntesten ist Liz Davies, die früher dem Labour-Vorstand angehörte und jetzt im Vorstand der Socialist Alliance sitzt. Die Allianz hat prominente Unterstützung: den Dramatiker Harold Pinter, den Schriftsteller Ronan Bennett, die Journalisten John Pilger und Tariq Ali, die Pop-Band Asian Dub Foundation, den Anti-Atom-Aktivisten Bruce Kent, die Anwälte Imran Khan und Gareth Pierce sowie eine ganze Reihe von Schauspielern.

Die Anfänge der Allianz gehen bis 1992 zurück. „Es war damals mehr ein Austausch von Ideen“, sagt Hoveman, „eine Kommunikation unter den verschiedenen Organisationen. Das änderte sich nach den Wahlen für den Londoner Bürgermeister vor zwei Jahren. Wir hatten eine starke Präsenz in den Medien, bekamen 46.000 Stimmen, und plötzlich merkten viele, dass die Socialist Alliance ja vielleicht doch eine Rolle spielen kann. Von da ab begann die nationale Entwicklung der Alliance. Heute sind wir die bedeutendste Organisation links von Labour.“ Für einen Sitz im Unterhaus reicht es freilich noch lange nicht.

„Auf Grund unseres Wahlsystems, bei dem nur der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt wird, sind wir bei allgemeinen Wahlen bisher ohne Chance“, sagt Hoveman. „Bei Kommunalwahlen sieht es besser aus, wir haben einige Bezirksabgeordnete, aber der Fairness halber muss gesagt werden, dass sie gewählt wurden, bevor sie zu uns kamen. Dave Nellist zum Beispiel wurde als unabhängiger Sozialist gewählt, nachdem er aus der Labour Party hinausgeworfen worden war. Im Mai bei den Lokalwahlen werden wir aber bis zu 500 Kandidaten aufstellen.“

„Der Sozialismus war eigentlich im Mülleimer der Geschichte gelandet“

Die Allianz will vor allem in den Wahlkreisen kandidieren, in denen die Nazis der British National Party (BNP) stark sind. Bei den Wahlen im vorigen Juni kam die BNP im Norden Englands in zwei Wahlkreisen auf 16 und 11 Prozent. „Wir wollen den desillusionierten Wählern eine linke Alternative bieten“, meint Hoveman. Die Mitgliederzahl seiner Organisation beziffert er mit 5.000 bis 10.000, genauer weiß er es nicht, da die Socialist Alliance landesweit bisher noch nicht richtig organisiert ist.

Das soll sich ändern. Auf einer Konferenz im Dezember gab man sich eine neue Verfassung. Seitdem hat jedes Mitglied eine Stimme, das Blockstimmrecht der einzelnen Parteien, die der Allianz angeschlossen sind, wurde abgeschafft. Das stieß nicht überall auf Begeisterung, einige kleinere Organisationen befürchten, dass sie nun von der SWP, der Organisation mit den meisten Mitgliedern, dominiert werden.

Einig ist man sich jedoch beim Nahziel, der Neuverteilung der Gewerkschaftsgelder. Seit hundert Jahren gehen die Millionen an die Labour Party. Mitte März findet in London eine Konferenz statt, zu der die Socialist Alliance die Gewerkschaften eingeladen hat. „Wir verlangen ja nicht, dass wir nun das ganze Geld bekommen sollen“, sagt Hoveman, „aber die Gewerkschaftsmitglieder sollten doch ein Mitspracherecht haben, was mit ihren Beiträgen geschieht.“

Die alte Labour Party will er nicht wieder auferstehen lassen. Die Labour-Linke sei in ihrer Partei bedeutungslos geworden, sagt er: „Blair regiert mit eiserner Faust. Viele Parteimitglieder sind desillusioniert. Die niedrige Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im vorigen Jahr war ja nicht Faulheit, sondern in den meisten Fällen eine bewusste Entscheidung.

Es gibt viel Platz links von Labour, und ich glaube, wir können eine ganze Reihe von Labour-Aktivisten zu uns herüberziehen – vor allem aber deren Wähler. Bei den letzten Unterhauswahlen erhielten wir 200.000 Stimmen, doppelt so viel wie die Kommunistische Partei nach dem Zweiten Weltkrieg bekam. Und das war bisher der Rekord einer linke Partei.“