Wie hungrige Wölfe in der Nacht

Rund eine halbe Million wilder Hunde lebt in den Straßen Bukarests. Die Zweibeiner in der rumänischen Hauptstadt arrangieren sich mehr oder weniger mit Hundekot und Rudelgebaren. Bürgermeister Bășescu will die Tiere in Heime stecken

Egal ob einschläfern, sterilisieren oder einfangen – dem Land fehlt das Geld

von ORTRUN ALBERT

Während sich Naturschützer in ganz Europa bemühen, die Wölfe wieder heimisch werden zu lassen, haben deren Nachfahren still und weitestgehend unbemerkt eine Stadt bereits zurückerobert: Bukarest. Schätzungsweise eine halbe Million wilder Hunde lebt in der Hauptstadt Rumäniens, so frei wie ihre Urahnen in den Bergen. Sie streifen nachts durch dunkle, alte Straßen, leben in Rudeln mit abgegrenzten Revieren und haben sich mit Autos, Straßenbahn und Asphalt arrangiert.

Mit ausgesetzten und verängstigten Straßenkötern anderer Städte haben diese wilden Kreaturen wenig gemeinsam. Frei und unbeeindruckt von Verkehr und Putzkolonnen leben sie trotz städtischer Umgebung in einem nahezu natürlichen Zustand. Sie haben sich eine Koexistenz geschaffen, leben neben den rund zwei Millionen Menschen der Metropole unabhängig wie die Kakerlaken in den Luftschächten oder die Ratten in der Kanalisation.

Die Vorfahren der wilden Hunde wurden in den Achtzigerjahren freigelassen. In der mittlerweile zehnten Generation haben sich die einstigen Doggen oder Dackel, Boxer oder Pudel zurückgekreuzt zu diesen graubraunen, struppigen „Urhunden“, denen man ansieht, dass der Hund vom Wolf abstammt. Nur etwas kleiner sind sie als ihre Verwandten aus den tiefen Wäldern Sibiriens. Und meistens haben sie noch diesen milden Hundeblick. Schließlich werden sie auch heute noch immer wieder von freundlichen Menschen gefüttert. Ansonsten ernähren sie sich von Müll oder reißen Ratten und Kaninchen. Florică zum Beispiel ist der von Kämpfen gezeichnete, angekaute Anführer des Rudels weißer Hunde, die den rechten Flügel des „Hauses der Presse“, eines sozialistischen Prachtbaus in Bukarest, beherrschen. In diesem architektonischen Geschenk Stalins an das rumänische Bruderland sind alle Zeitungen auf einmal untergebracht. Florică nun sorgt dafür, dass sein Klan den Eingang des Gebäudes gegen das links des Pressehauses lebende Rudel schwarzer Hunde verteidigt. Mit den täglich zur Arbeit eilenden Menschen, seinen Kantinen und den generös gestimmten Feierabendjournalisten ist dies ein futtertechnisch optimales Plätzchen für die Tiere.

Den Grundstein für die übermäßig große Hundepopulation schufen verzweifelte Bewohner der historischen Stadtteile vor etwa zwanzig Jahren. Viele Rumänen mussten zu dieser Zeit ihre Wohnungen verlassen, weil alte Gebäude abgerissen und die Menschen in Plattenbauten umgesiedelt wurden. Bei den zum Teil überstürzten Umzügen in enge kleine Neubauwohnungen konnte mancher sein geliebtes Haustier nicht mitnehmen – zumal die zum Teil baufälligen und wenig luxuriösen Häuser der Altstadt vornehmlich von älteren und ärmeren Personen bewohnt wurden, die dem plötzlichen Befehl zum Umzug schon ohne Hund schwer nachkommen konnten.

Besonders schlimm war es, als Nicolae Ceaușescu Mitte der Achtzigerjahre ein Fünftel der historischen Altstadt abreißen ließ. 70.000 Menschen mussten damals innerhalb kürzester Zeit ihre Häuser verlassen. Die Zahl der wilden Hunde stieg in dieser Zeit sprunghaft um das Hundertfache an. 1984 kehrte der einstige Diktator des Landes Ceaușescu von einem Besuch aus Nordkorea zurück, von nun an von der Idee beseelt, den dortigen Prunkpalast als ein Denkmal seiner selbst noch zu übertreffen. In seinem unendlichen Größenwahn ließ er also einen Teil des alten Bukarest abreißen, um Platz zu schaffen für einen gigantischen „Palast des Volkes“ mit vielen darauf zu führenden Prachtstraßen.

Das Mahnmal für Selbstherrlichkeit und Größenwahn ist gemessen an seiner Außenfläche das zweitgrößte Gebäude dieser Welt. Bezogen aufs Volumen rangiert der Prunkbau immerhin noch an dritter Stelle, hinter dem Cape Canaveral in den USA und der Cheops-Pyramide in Ägypten.

Fertig ist der irrsinnig riesige „Palast des Volkes“ bis heute nicht. Seit sein Bauherr von der Revolution hinweggefegt wurde, ruhen die Arbeiten, und der Streit darüber, was mit dem Gebäude geschehen soll, dauert noch an.

Seit jener Zeit nun gehört das Heulen wilder Hunde in der Nacht zu Bukarest wie das Glockenläuten zu München. Selten sehen die Tiere die Menschen als Feinde, meist sind sie ihnen freundlich gesonnen. Nur manchmal – in dunklen Nächten, besonders in harten Wintern, wenn sie frieren und hungrig sind – erinnern sie sich daran, die eigentlichen Herren der einsamen Straßen zu sein, und dann begegnet ein Mensch den Nachfahren der Wölfe besser nicht allein. Trotzdem halten sich die Angriffe auf Personen in Grenzen. Nur wenige Bisswunden im Jahr gehen auf das Konto der wilden Hunde.

Das Verhältnis der Bewohner Bukarests zu ihren verwilderten einstigen Haustieren ist ein gespaltenes. Während es strikte Gegner der Hunde gibt, lieben auch viele die freien Tiere. Ioana Voiculescu ist Architektin. Von ihren 300 Mark Gehalt im Monat könnte sich die 29-Jährige keinen Hund leisten. „Als ich drei Jahre in Holland gelebt habe, haben sie mir gefehlt, die Hunde. Ich finde es wunderschön, dass es hier so viele gibt.“ Ioana Violescu gehört zu jenen Menschen, die an keinem Hund vorbeigehen können, ohne ihn zu streicheln und mitleidig ein Stück Brot aus der Tasche zu kramen.

Nur wenige Bisswunden gehenauf das Kontoder wilden Hunde

Sava Diamandi, 21-jähriger Jurastudent, sieht das anders: „Wer einen Hund haben will, sollte auch die Verantwortung übernehmen.“ Sava Diamandi ärgert sich immer über die Leute, die den Hunden zu fressen geben, und darüber, dass er Angst haben muss, mit seinem eigenen Hund, einem schwarzen Spitz namens Jimmy, spazieren zu gehen, weil er von den Wilden angefallen werden könnte. Denn sosehr sich die verschiedenen freilebenden Rudel gegenseitig bekämpfen, in ihrem Hass gegen die behüteten Haus- und Hofhunde sind sie einig. Klar ist, dass etwas getan werden muss.

Eine halbe Million freier Hunde produziert auf den Straßen auch eine Menge Dreck. Alle vier Jahre, pünktlich zu den Wahlen, versprechen die Bürgermeister der rumänischen Hauptstadt, sich dieses Problems anzunehmen und eine Lösung für die wilden Hunde zu finden. Auch der neue Bürgermeister Traian Bășescu der partii du democratii (Demokratische Partei, PD) hat vollmundig erklärt, die Misere in den Griff bekommen zu wollen. Pläne, die Hunde umzubringen, scheiterten bislang jedoch nicht nur am erbitterten Widerstand der eigenen Landsleute, sondern riefen auch bekannte Persönlichkeiten wie die Schauspielerin Brigitte Bardot auf den Plan. Beim ersten Bekanntwerden solcher Maßnahmen reiste die französische Tierschützerin 1997 nach Bukarest, um sich mit süßen Hundebabys fotografieren zu lassen und energisch gegen etwaige Tötungen zu demonstrieren.

Heute sind die Pläne der Stadtobersten etwas moderater: In Heime will man die Tiere stecken oder sie sterilisieren lassen und darauf warten, dass sich so ihre Anzahl auf natürliche Art und Weise vermindert. Was den Plänen an Taten gefolgt ist, ist eher lachhaft. Bei einer halben Million spielt es keine entscheidende Rolle, was man sich für zweitausend Tiere ausdenkt. Egal ob einschläfern, sterilisieren oder einfangen – dem Land fehlt das Geld zum Ausführen solcher Pläne. „Wir sind so arm, dass wir es nicht verhindern können, dass manche unserer Kinder auf der Straße leben. Da können wir doch schlecht für Hunde Heime bauen“, erklärt Roxandra Minculescu, eine 34-jährige Journalistin, die Misere.

Also bleibt alles beim Alten. Besonders gefährlich sind sie ja nicht. Und aus der für Rumänien typischen Mischung aus Resignation, Tierliebe und schlechtem Gewissen wechseln die Menschen des Nachts eben die Straßenseite, wenn den Hunden mal wieder einfällt, vom Wolf abzustammen, und das trübe Laternenlicht das kleine Rudel grauer Gestalten beleuchtet, denen sich das Fell sträubt.