Auf dem Sägeschlitzmarkt

Cuis Ware ist heiß – so heiß, dass sie im Westen, woher sie kommt, oft noch nicht auf dem Markt ist: Er handelt mit DVD-Raubkopien. China entdeckt Filmkunst zu Dumpingpreisen

von YAN JUN

Liu, dreißig Jahre und allein stehend, arbeitet als Redakteurin bei einer Pekinger Wochenzeitschrift. Vor einem Jahr wurde sie von Freunden zur Hausvorführung eines französischen Films eingeladen. Zum ersten Mal sah sie einen Film, der weder aus der chinesischen Filmindustrie noch aus Hollywood stammte. Seitdem kauft sie sich jede Woche mindestens zehn DVDs, zum großen Teil europäische Kunstfilme. Ihr Ziel ist nicht eben bescheiden: Eintausend Filme soll ihre Sammlung in absehbarer Zeit umfassen. „Ich möchte so viele gute Filme wie möglich sammeln, bevor die Raubkopien gänzlich abgeschafft sind.“

Liu hätte niemals gedacht, dass aus ihr einmal eine leidenschaftliche Filmliebhaberin werden würde. Und noch weniger hätte sie sich vorstellen können, dass innerhalb eines Jahrs raubkopierte DVDs in einem solch rasanten Tempo den chinesischen Markt – genauer: den Schwarzmarkt – erobern könnten. Im Zuge des DVD-Booms sind sogar bereits mehrere Filmzeitschriften entstanden; die bereits existierenden Filmmagazine sahen sich gezwungen, ihre Konzepte der neuen Situation anzupassen. Man bekommt heutzutage die gesammelten Werke von Regielegenden wie Stanley Kubrick, Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini oder Luis Buñuel ebenso selbstverständlich wie die aktuellsten preisgekrönten Filme aus Venedig und Berlin – von den großen Filmen aus Hollywood und oscargekrönten Werken ganz zu schweigen.

Liu braucht gar nicht durch dunkle Gänge in einen Keller zu schleichen, wo sie sich vielleicht mit einem Code Zutritt zu den Schätzen der Filmkunst verschafft, wie sich mancher bei solchen Geschäften vielleicht vorstellt. Nein, die Ware wird jede Woche direkt an ihren Arbeitsplatz geliefert. Anfangs kostete jede DVD noch 10 Yuan (etwa 1,20 Euro). Doch dann stieg auch die Konkurrenz ein, und prompt fiel der Preis auf 7,5 Yuan. Der große Absatz macht das Geschäft trotzdem rentabel. Allein Liu blättert schließlich jedesmal fünfhundert Yuan auf den Tisch – immerhin ein Zehntel ihres monatlichen Einkommens. Obwohl sie pro Monat eine Belastung von zweitausend Yuan durch ein Hypodarlehen hat, ist ihr die Investition in die DVDs viel wert. Was soll sie denn machen, wenn es der Regierung eines Tages gelingt, die Raubkopien aus der Welt zu schaffen? „Soll ich mich etwa im Kino von Zhang Yimos Filmhits oder irgendwelchen Hollywoodschinken langweilen lassen?“, sagt sie.

Liu hat hohe Ansprüche und achtet deshalb auf Qualität. Die schnellen Kopien von „Harry Potter“ oder „Snatch“, die schon einen Tag nach der Kinopremiere in Amerika hier in Peking zu kriegen waren, lehnt sie grundsätzlich ab. Denn das sind im Fachjagon „Schnellschussauflagen“, die gleich im Kino vom Videogerät aufgenommen werden. „Wenn du Pech hast, hörst du sogar das Gelächter des Publikums.“

Europäische Filme zu sehen, sich in Bars zu verabreden, zu reisen und im Internet eigene Meinungen zu veröffentlichen, damit geben die jungen Chinesen gerne an. Doch noch immer kontrolliert der Staat die Einfuhr audiovisueller Produkte und die Vorführungen ausländischer Filme in den öffentlichen Kinos. Nur wenige staatliche Institutionen haben die Lizenz dafür. Und leider sitzen dort nur Idioten. So muss man sich selbst helfen. Zunächst war das Geschäft mit den illegalen Kopien vor allem von eintönigen Krimis und Filmen über die Spice Girls beherrscht. Doch sehr schnell haben die Händler die echten Bedürfnisse der jungen Leute begriffen, eine perfekte Logistik von der Information über die Herstellung bis hin zum Vertrieb aufgebaut – und jetzt liefern sie Qualitätsware. Diese Händler beherrschen heute schätzungsweise 95 Prozent des chinesischen Audio- und Videomarkts. Hunderttausende Konsumenten wie Liu unterstützen dieses Geschäft. Viele von ihnen besitzen mittlerweile schon einige tausend dieser DVDs.

Neben dieser überdimensionalen und halboffiziellen Industrie versucht eine Gruppe junger Leute, in einer Nische des audiovisuellen Marktes ihre Existenz aufzubauen. Cui ist einer davon.

Es ist eine Woche vorm chinesischen Neujahr. Alle Leute bereiten sich auf das wichtigste Fest des Jahres vor. Cui fährt kreuz und quer durch Peking. Fünf Stunden hat er heute bereits im Bus zugebracht. Er bringt zunächst einem Freund die frisch gebrannten Platten von „Night On Earth“, dann holt er bei einem anderen einen Stapel CDs mit experimenteller Musik ab. Zwischendurch schafft er es noch, bei dem Besitzer eines illegalen Plattenladens ein paar geschäftliche Angelegenheiten zu regeln.

Cui und seine Freunde gehören zu den so genannten saw gash generation, der „Sägeschlitzgeneration“. Dieser Begriff ist vor zehn Jahren entstanden, zu einer Zeit, als die chinesische Raubkopieindustrie ihren Aufschwung erlebte. Als Rohstoffe für die Raubkopien wurden aus US-amerikanischen und kanadischen Lagern veraltete Kassetten und CDs importiert, die durch einen hineingestanzten Schlitz für den Weiterverkauf unbrauchbar gemacht worden waren. Doch ein Teil dieser Saw-gash-Tapes oder Saw-gash-CDs wurde tatsächlich weiterverkauft an hungrige Musikliebhaber, die mit Pinzette und Schere die Musikkassetten reparierten oder sich mit dem Genuss der nur zur Hälfte abspielbaren CDs zufrieden gaben.

Auf diese Weise ist eine Saw-gash-Generation entstanden, die trotz des Verbots leidenschaftlich nach neuen, unbekannten Sachen suchte. Saw-gash war in den letzten zehn Jahren der Nährboden der chinesischen Rockmusik. Für nur drei bis fünfzehn Yuan das Stück – zu einem Preis, den sich jedermann leisten konnte – wurden Millionen Kassetten und CDs verkauft. Aus Abfall wurde so ein begehrter Kulturträger. In Peking gab es damals sogar eine Saw-gash-Straße, weil sie voll von Geschäften war, die mit diesen Waren handelten. Jetzt ist dort nur noch einer dieser Läden übrig geblieben, der immerhin tausend Yuan Umsatz am Tag macht.

Cui nennt sich selbst „Saw-gash-Tape“. Er ist 24. Nach dem Studium kam er nach Peking und hat vom Verkauf von Saw-gash-Kassetten und Saw-gash-CDs gelebt, bis er sich eines Tages umorientieren wollte und einen Computer und einen CD-Brenner angeschaffte. Er brennt Film- und Musikraritäten für spezielle Kunden wie Liu und ihre Kolleginnen. Er ist bekannt unter den jungen Künstlern, Journalisten, Schriftstellern, Punk- und Rockmusikern und den Studenten. Er hat keinen Gewerbeschein und zahlt keine Steuern.

Für jede selbst gebrannte CD oder DVD kassiert er nur fünf bis maximal zehn Yuan – Porto kommt extra, versteht sich. Aber wenn er gut gelaunt ist, bringt er die Ware sogar frei Haus. Er vertreibt auch selbst gebrannte CDs von Undergroundrockbands. Er träumt von seinem eigenen Imperium: einem Netzwerk aller Läden in China, die bereit sind, Independent-Fanzines, Saw-gash-Ware und Raubkopien zu verkaufen. Und das soll übers Internet laufen. Cui ist voller Zuversicht.

Heute wird in China heftig über das Thema Raubkopien diskutiert. Viele vertreten die These, es sei zwar ungerecht, dass ein junger Mensch in einem Entwicklungsland drei Monatseinkommen für Windows 98 bezahlt, aber man solle Bill Gates nicht abzocken. Doch für diejenigen, die Filme sehen und Musik hören wollen, ist diese Diskussion hohle Phrase. Cui ist für sie ein Held, dem sie alle huldigen, Woche für Woche.

Aus dem Chinesischen von Fang YuYAN JUN, 28, stammt aus Lanzhou und lebt als freier Autor und Inhaber eines Musikladens in Peking