Dem Osten gehen jetzt die Ärzte aus

In Ostdeutschland droht der Zusammenbruch der hausärztlichen Versorgung. Medizinstudierende wollen lieber Facharzt im Westen werden, wo mehr Honorar winkt. Ärzteverbände fordern eine Green-Card für Mediziner

MAGDEBURG taz ■ Die Zeit, die man im Wartezimmer mit Bauch- und Kopfschmerzen einer Behandlung entgegenfiebert, wird noch länger. Zumindest im Osten. Denn dort werden die Hausärzte knapp. Nach Einschätzung von Burkhard John, dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt, ist die Lage dramatisch: „Die ärztliche Versorgung in den neuen Bundesländern steht vor dem Kollaps.“

Schon jetzt fehlten in seinem Bundesland 120 Hausärzte. Da mehr als die Hälfte der Mediziner bereits älter als fünfzig Jahre seien, werde sich die Situation weiter verschlechtern. „In fünf Jahren prognostizieren wir bei ungebrochenen Trend für Sachsen-Anhalt allein 300 bis 450 fehlende Hausärzte.“

Auch die anderen ostdeutschen Bundesländer haben bereits Alarm geschlagen: In Brandenburg stehen schon 130 Hausarztpraxen leer. In den kommenden zehn Jahren, dies hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) errechnet, erreichen 35 bis 40 Prozent aller ostdeutschen Hausärzte das Rentenalter. Der Mangel, sagt John, werde zunächst auf dem Land und dann in den Städten „voll spürbar“ werden.

Ganz Ostdeutschland sucht Mediziner, und in einigen Jahren wird die Versorgung vermutlich auch im Westen schlechter. Den Osten trifft es nur deshalb härter, weil ein Teil der ausgebildeten Ärzte abwandert: Wegen des Lohnniveaus, das auch im zwölften Jahr nach der Wiedervereinigung nur achtzig Prozent des Westtarifs beträgt. Vereinfacht gesagt, zahlen die Krankenkassen den Ostärzten dafür, dass sie 15 bis 20 Prozent mehr Patienten versorgen, die zudem noch älter und kränker als im Westen sind, 20 Prozent weniger Geld.

Trotzdem überrascht der Ärztemangel. Noch vor wenigen Jahren haben Gesundheitspolitiker eine „Ärzteschwemme“ prophezeit und wollten die Studienplätze im Fach Medizin verringern. Doch sie machten die Rechnung ohne die Studenten. Diese haben keine Lust mehr, nach langer Ausbildung einen harten und risikoreichen Job für eine durchschnittliche Bezahlung zu übernehmen.

Nach einer Studie des Leiters der Statistikabteilung der Bundesärztekammer, Thomas Kopetsch, bricht inzwischen jeder Fünfte sein Medizinstudium ab. Die Zahl der Ärzte im Praktikum sei innerhalb von sechs Jahren um ein Viertel gesunken. Kopetschs Resümee: „Die Nachwuchsentwicklung ist alarmierend.“ Einzige gute Nachricht: Das Phänomen der Ärztearbeitslosigkeit werde verschwinden.

Von denen, die ihr Studium beenden, arbeitet nach Schätzung der KBV anschließend nur jeder Zweite mit Patienten. Die Anderen verdienen sich lieber als Berater oder Forscher in den Hochschulen und in der sehr gut zahlenden Pharmaindustrie. Wer tatsächlich Arzt werden will, meidet die Allgemeinmedizin und versucht, sich als Gynäkologe, Internist oder Chirurg zu spezialisieren, denn Fachärzte werden besser bezahlt.

„Hausarzt wollen höchstens fünf Prozent der Medizinstudenten werden“, schätzt Imke Warnecke vom Fachschaftsrat der Uni Magdeburg. Der Ruf des Hausarzts unter Wissenschaftskollegen sei schlecht. Er gelte als der Mediziner, der alles ein bisschen, aber nichts richtig kann. „Und seine Arbeitsbelastung ist enorm.“

„Der Job als Hausarzt wird an der Universität überhaupt nicht attraktiv gemacht“, ergänzt ihr Studienkollege Hagen Bönigk. In den medizinischen Fakultäten Sachsen-Anhalts gebe es keinen einzigen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. In ganz Deutschland sind es gerade mal sechs. In Thüringen kämpft gerade ein Förderverein um die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls an der Uni Jena. Eine stärkere Förderung der Ausbildung und mehr Professoren, die das Interesse am Beruf Hausarzt wecken, fordert folglich Burkhard John von der Kassenärztlichen Vereinigung. Zudem könnten bestimmte Fachmediziner wie Internisten zu Allgemeinmedizinern umgeschult werden.

Da solche Maßnahmen aber erst in mehreren Jahren greifen, hat er bereits in Polen und Bulgarien anfragen lassen, ob Ärzte von dort fünf Jahre in Ostdeutschland aushelfen würden. Auch der sächsische Ärztekammerpräsident Jan Schulze fordert eine Green-Card für osteuropäische Mediziner. Die sozialdemokratische Gesundheitsministerin Ulla Schmidt lehnt dieses Ansinnen jedoch ab. Um dem Ärztemangel im Osten vorzubeugen, werde sie sich für die Anpassung der Honorare und Gebühren an Westtarife einsetzen, hat Schmidt erklärt. RALF GEISSLER