„Unabhängigkeit immer wieder dreist angegriffen“

ORF-Journalisten begehren gegen Regierungseinfluss bei der Anstalt auf. ORF-Chefin taucht ab. Dafür hat Österreich jetzt auch Privatfernsehen

WIEN epd/taz ■ Österreichs TV-Landschaft ist in Aufruhr. Zum einen hat das Land jetzt – als letztes in Europa– auch einen eigenen privaten Fernsehsender. Die Medienbehörde Komm Austria sprach gestern offiziell die TV-Lizenz dem Sender ATV zu. Hauptgesellschafter des Unternehmens ist der Münchner Programmrechtehändler und Sendergründer Herbert Kloiber. In Deutschland hatte Kloiber das „Fernsehen für Frauen“ tm 3 betrieben, das nach mehreren Zwischenschritten jetzt zum Verkaufs- und Mitmachkanal Neun Live mutiert ist.

Zum anderen laufen die RedakteurInnen des Österreichischen Rundfunks (ORF) Sturm gegen das Durchregieren der Regierungskoalition aus Österreichischer Volkspartei (ÖVP) und Jörg Haiders Freiheitlichen (FPÖ) bei ihrer Anstalt. Sie sind vor allem enttäuscht von ihrer neuen Chefin. Denn Marion Lindner, seit vier Wochen Generaldirektorin des Senders, war nicht zu einem mit dem Redakteursausschuss vereinbarten Termin erschienen.

Interne Resolution

Die Redakteure empfinden das als „grobe Brüskierung“, heißt es in einer internen Resolution, die der Wiener Standard auf seiner Internetseite www.derstandard.at verbreitet hat. Erstmals in der 29-jährigen Geschichte der ORF-Redakteursvertretung habe die Geschäftsführung einen Termin nicht eingehalten, und das „in einer Zeit, in der die Unabhängigkeit der ORF-Berichterstattung immer wieder und besonders dreist angegriffen und zu unterhöhlen versucht wird“.

Unter diesen aktuellen politischen Rahmenbedingungen, heißt es weiter, „halten die ORF-JournalistInnen ein einheitliches und unmissverständliches öffentliches Auftreten von Geschäftsführung und Programmmachern für unverzichtbar“. Dies an aktuellen Beispielen zu diskutieren, sei eines der wichtigsten Anliegen des Redakteursausschusses gewesen.

Auf die Resolution der ORF-Redakteure hat Lindner bisher noch nicht reagiert. Dagegen hat sich Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in die Debatte eingemischt: Er hält die Sorge der ORF-Redakteure um ihre journalistische Unabhängigkeit für Panikmache.

Es sei „Orwell’scher Newspeak“, sagte Schüssel in einem Interview mit der Austria Presse Agentur, wenn die Veränderungen im ORF so dargestellt würden, „als ob jetzt ein finsteres Zeitalter ausgebrochen wäre“. Das Gegenteil sei der Fall.

Neues ORF-Gesetz

Der ORF hat unter der ÖVP/FPÖ-Regierung ein neues Gesetz und neues Führungspersonal bekommen. Und er, der Bundeskanzler, zeigte sich natürlich „sehr zufrieden“ mit dieser Entwicklung. Mit der Lizenz für ATV habe man in Österreich endlich „europäische Normalität“ hergestellt, „nach Jahrzehnten“ werde wieder Medienpolitik gemacht.

Die Begehrlichkeit der Parteien, Berichterstattung in ihrem Sinne zu beeinflussen, ist für ihn kein Grund zur Aufregung. Diese Begehrlichkeit, sagte er im APA-Interview, sei immer groß. Außerdem habe es sie – bei allen Parteien – schon immer gegeben. „Begehrlichkeiten sollten überhaupt nicht geleugnet werden, denn Politiker wollen vorkommen, wollen eine Botschaft an die Menschen heranbringen, was auch legitim ist.“ Manche hörten es „halt nicht so gern“, wenn sie kritisiert werden, aber das sei „in der Demokratie unvermeidlich, und das ist auch gut so“. Und außerdem sei seine Partei, die ÖVP, im Anspruch ja auch „etwas bescheidener und auch klüger in der realistischen Umsetzung“.