„Bildung ist die Fähigkeit nein zu sagen“

Er ist den Weg vom Literaturdozenten über den Autoverkäufer zum Industriemanager gegangen. Jetzt denkt er über eine neue Universität nach. Am meisten stören ihn dabei Rektoren, die sagen: Jetzt machen wir, was die Wirtschaft will. Ein Gespräch mit Daniel Goeudevert, der morgen 60 wird

„Mich stört, dass die Bildung zur Geisel der Wirtschaft wird“

von REINHARD KAHL

„Mich stört“, sagt der Mann mit der Bilderbuchkarriere in der Wirtschaft, „dass die Bildung zur Geisel der Wirtschaft wird.“ Wie bitte? Daniel Goeudevert, der es vom Autoverkäufer bis in den Vorstand von Konzernen brachte, warnt vor seiner Zunft? Auch vor ihr. Noch mehr fürchtet er den neuen Opportunismus der Bildungsleute. „Uni-Rektoren schämen sich nicht zu sagen: ‚Jetzt haben wir es kapiert: In meiner Universität wird nur noch gemacht, was die Wirtschaft erwartet.‘“ Daniel Goeudevert findet: „Das ist eine Katastrophe.“

Goeudevert kommt es auf den Unterschied von Bildung und Ausbildung an. Bildung, sonst in Sonntagsreden Thema für faselnde Opportunisten, ist für ihn das Entscheidende. „Je ausgebildeter die Menschen sind, desto unflexibler sind sie“, so lautet die Quintessenz seines Managerlebens: „Je gebildeter sie sind, desto flexibler.“

Auf der anderen Seite erinnert er sich daran, wie weltfremd viele sind, die mit Titeln dekoriert und mit eitlem Vokabular gespickt aus den Universitäten kommen. Auch mit denen konnte er nie viel anfangen. Bildung ist etwas anderes. Bildung ist die Fähigkeit die Kugel über Bande zu spielen. Das effektivitätsversessene direkte Zielen aufs Ziel ist nicht erfolgreich und die selbstverliebten Attitüden der Bildungsmandarine sind es schon gar nicht. Bildung ist auch die Fähigkeit nicht satt zu sein, sondern hungrig.

Vielleicht so welthungrig wie Daniel Goeudevert, der morgen seinen 60. Geburtstag feiert. Er hat Bildung zu seinem wichtigsten Thema gemacht. Das zweitwichtigste war es für ihn immer. Natürlich war er als Mittzwanziger nicht irgendein Autoverkäufer. Er kam von der Sorbonne, der edlen unter den französischen Universitäten, hatte Literaturwissenschaft, auch Germanistik studiert und hielt sich mit Lehraufträgen über Wasser.

Vier Jahre hatte er mit einem unsicheren Vertrag an einem Pariser Gymnasium unterricht und zu wenig Geld für seine drei Kinder verdient. Also begann er Autos und offenbar auch sich selbst so gut zu verkaufen, dass Citroën ihn in die Schweiz schickte, wo er die Firma bald repräsentierte. Dann holte ihn Renault als Nummer eins nach Deutschland und sah ihn vor für höhere Aufgaben. Lauter riefen die Amerikaner, die ihn in den Vorstand von Ford Deutschland hievten. Als er das alles fast absichtslos erreicht und auch genossen hatte, 49 Jahre alt, sagte er Ford ade. Um in Deutschland das zu gründen, was er hier am meisten vermisst hatte: eine Universität, die diesen Namen verdient. Es sollte eine Campusuniversität werden, die Bildung und Ausbildung, Theorie und Praxis, das Notwendige und die Muße und noch vieles anderes verbindet.

Das Auto war nie Goeudeverts Leidenschaft. Ihn faszinierte eher die Organisation, genauer der Superorganismus, der Autos produzieren kann. Er wollte ihn modellieren. Die ideale Organisation allerdings blieb für ihn eine Universität – wenn auch keine, die er kannte. Als er eine solche vor elf Jahren zu entwerfen begann, kam ein Anruf aus Wolfsburg dazwischen. Am Telefon der damalige VW-Vorstand Carl Hahn. Er erinnert sich an einen gebildeten, weltoffenen Menschen, mit dem er sich sofort verstand. Hahn suchte einen Nachfolger, der VW internationalisiert. „Verschiedene Kulturen“, das reizte Goeudevert. „Da konnte ich nicht nein sagen und habe meine Campusidee vorübergehend weggelegt und bin nach Wolfsburg gegangen.“ Aber in der Wolfburg machte dann schon bald ein anderer das Rennen. Einer, der Benzin im Blut hatte, der große Ingenieur und Autoliebhaber Ferdinand Piëch. Der Organisationsliebhaber Goeudevert musste gehen.

Manche unterstellten dem Paradiesvogel im deutschen Management, eben doch kein richtiger Automann zu sein. Vielleicht. Er wollte das Auto vom Altar holen. Bedenken, was es heißt, in einer Autogesellschaft zu leben. Das Fahrzeug als guten Gebrauchsgegenstand auf den Markt bringen. Er wollte keinen Fetisch, und das sagte er laut. Goeudevert war den anderen voraus. Er erkannte die wachsende politische Bedeutung der großen Unternehmen. Damit meinte er nicht die Macht der Wirtschaft über die Politik. Eher ihre eigene, genuine Politik der Wirtschaft, weil sie mit den Dingen, die sie herstellt, die Welt verändert.

Der französische Sozialwissenschaftler und Philosoph Bruno Latour spricht heute davon, dass wir ein „Parlament der Dinge“ brauchen. Ein zunächst gewöhnungsbedürftiger, dann aber umso einleuchtenderer Gedanke. Goeudevert war als Vorstand schon ein Parlamentarier der Dinge. Ein Parlamentarier braucht ein Sprache, in der er denken und mit der er Vorstellungen möglicher Welten formulieren kann. Eine etwas andere Sprache als die der Werber oder Verkäufer und Machthaber. „Mich hat bewegt, dass die anderen Chefs zwei Sprachen hatten: eine für die Öffentlichkeit, immer in der Pose ‚Ich bin der Wirtschaftskapitän‘, und eine andere hinter verschlossenen Türen.“ Dann macht Goeudevert eine Pause. Er zitiert voller Anerkennung den von der RAF ermordeten Deutsche-Bank-Chef und Förderer der Uni Witten/Herdecke, Alfred Herrhausen: „In der Wirtschaft fehlen Menschen, die sagen, was sie denken, und tun, was sie gesagt haben.“ Dann unterbricht er sich wieder. „Der dritte Teil ist noch wichtiger. Menschen, die das sind, was sie tun. Aber Authentizität ist nicht das, was man in der Wirtschaft auslebt.“

Nach dem VW-Abgang 1993 konzipiert Daniel Goeudevert eine neue Universität und – da ist er eben Unternehmer – er will sich nicht mit der bloßen Idee begnügen. Die Campusuniversität soll eine neue Mischung aus bekannten und bewährten Elementen werden: Akademie, Labor und Unternehmen. Die Wirtschaft soll sich finanziell beteiligen. Auch ideell. Langsam sei die Wirtschaft so weit zu kapieren, was Bildung bedeutet. Und schon fährt sich Goeudevert wieder selbst ins Wort: „Aber man muss die Wirtschaft bei dem Projekt in Grenzen halten. Wenn sie dominiert, hat Bildung bald nichts mehr mit Bildung zu tun.“

Goeudevert gewann Jacques Delors, den damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission, für sein Campusprojekt. Von der Stadt Dortmund bekam er die Zusage für das Gelände einer früheren Kaserne. Er hatte kluge Mitarbeiter. Aber eine Bedingung für das Projekt war, dass das staatliche Geld mit ebenso viel Geld aus der Wirtschaft aufgewogen werden müsse. Dieses private Geld konnte in der erforderlichen Menge nicht beschafft werden.

Diese Niederlage hat ihn nicht ermüdet. Er schrieb Bücher und es wurden Bestseller. „Wie ein Vogel im Aquarium“ oder „Mit Träumen beginnt die Realität“ oder sein neuesten Buch über Bildung: „Der Horizont hat Flügel“. Darin erzählt er auch sein bisheriges Scheitern mit der Uni-Idee. Aber neuerdings gibt es wieder Aussichten für eine Finanzierung. Dann könnte andernorts doch noch wahr werden, was er für Dortmund konzipiert hatte.

Auf dem Gelände sollten sich 150 Firmen ansiedeln, vor allem internationale aus Frankreich und Deutschland. „Das sind die Lungen dieser Universität und darauf kommen drei Säulen.“

Erstens eine Managerhochschule.

Zweitens eine Akademie für langzeitarbeitslose Akademiker. „Es gibt hunderttausende davon, Menschen, die die Wirtschaft eliminiert hat. Auf der Erfahrung dieser Eliminierung möchte ich aufbauen.“

Und drittens die Ausbildung für gemeinnützige Organisationen, Nichtregierungsorganisationen von Greenpeace bis zu „Ärzte ohne Grenzen“.

Die Nichtregierungsorganisationen sind für Goeudevert die wichtigen Akteure der künftigen Weltpolitik. In den Labors und Seminarräumen des Campus sollen die jungen und erwachsenen Studierenden sich ausbilden. In den dort angesiedelten Firmen sollen sie arbeiten und Erfahrungen machen: Und in all dem, was dazwischen ist, entwickelt sich Bildung. Eigentlich ist das ganze Projekt dazu da, dieses Dazwischen zu ermöglichen, das so schwer beschreibbar ist wie die Seele eines Menschen. Dieses Zwischen ist Bildung. Sogleich wird Daniel Goeudevert pragmatisch. „Auf dem Campus soll sich ein Mikrokosmos bilden, wo sich die Manager der Zukunft und Leute, die in Nichtregierungsorganisationen arbeiten werden, kennen lernen.“

Der Campus, eine Begegnungsstätte! Ganz im Gegensatz zu den uns bekannten Hochschulen, die von Dozenten und Studenten nur zum Besuch ihrer Seminare und Vorlesungen aufgesucht werden, weil diese hohen Schulen, aus denen Flachschulen geworden sind, schon räumlich so verwahrlost sind, dass sich dort niemand freiwillig länger aufhält als nötig. Dass in solchen Unis die Zukunft nicht erfunden wird, hat sich nun langsam herumgesprochen. Wasser auf Goeudeverts Mühlen. Er wird morgen ja erst 60. Er kann noch warten und schreibt zwischendurch wieder ein Buch, diesmal eines über die Deutschen, denen er rät, trotz alledem doch ein wenig stolzer zu werden.

Zum Schluss noch mal die Frage, Herr Goeudevert, was ist denn Bildung? „Bildung entwickelt sich in einem dafür geeigneten Umfeld. Sie ist eine Atmosphäre. Sie ist eine Charaktereigenschaft. Sie ist die Schärfe des Urteils und sie ist vor allem die Fähigkeit nein zu sagen.“