Lernen von den Holländern?

Das Bündnis für Arbeit hat ein Vorbild: das „Poldermodell“ in den Niederlanden.Doch das Beschäftigungswunder hat Nachteile: Es gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit

In den Niederlanden entsteht Wachstum nicht durchInnovation – sondern durch Transpiration

Die Deutschen schauen wieder mit Interesse nach den Niederlanden. Laut Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) hat das Land offiziell die Vollbeschäftigung erreicht. Kritiker merken allerdings an, dass gut eine Million Arbeitslose in allerlei Programmen weggemogelt wurden – etwa durch Sozialhilfe, Invalidengesetz, Frühpension. Und viele der neuen Stellen sind Teilzeitstellen und oft auch „untypische“ (flexible) Beschäftigungsverhältnisse. Dennoch nahmen die Arbeitsplätze in den Niederlanden in den letzten 15 Jahren sehr viel stärker zu als in den Nachbarländern. Jedes Prozent Wachstum des niederländischen Nationaleinkommens setzte sich in erheblich mehr Arbeitsplätze um als anderswo in Europa.

Wie kam dieses arbeitsintensive Wachstum zustande? 1982 haben die niederländischen Gewerkschaften und Arbeitgeber in Wassenaar eine Art Sozialpakt geschlossen. Seitdem liegen die niederländischen Tarifabschlüsse unter dem EU-Durchschnitt. Zugleich haben es die Gewerkschaften toleriert, dass viele schlecht bezahlte und sozial ungeschützte Jobs entstanden. Auch das hat den Lohnkostendruck gesenkt.

Der geringe Lohnkostendruck hat allerdings eine Kehrseite: Es lohnt oft nicht mehr, in arbeitssparende Prozesstechnologie zu investieren. Neue und produktivere Maschinen werden nur zögernd eingeführt, zumal die älteren und arbeitsintensiveren Maschinen durch die gemäßigten Löhne länger rentabel genutzt werden können. Die Folge: Die Arbeitsproduktivität nimmt nur langsam zu. Etwa drei Jahre nach dem Vertrag von Wassenaar sank das Produktivitätswachstum ruckartig und verharrt seitdem auf niedrigem Niveau. Seit 1984/85 ist das Wachstum der Wertschöpfung pro Arbeitnehmer ungefähr halbiert (und auch die Produktivität pro Arbeitsstunde wächst erheblich langsamer als im europäischen Durchschnitt).

Eine Wirtschaft kann auf zwei Arten wachsen: Entweder die Menschen arbeiten produktiver (mit neuerer Technologie), oder man beschäftigt mehr Menschen. Die Niederlande haben den zweiten Wachstumstyp gewählt: Mehr Menschen arbeiten – mit veralteter Technologie, gegen mäßige Löhne und oft mit flexiblem hiring and firing nach amerikanischem Vorbild.

Wer hat nun das bessere Modell? Deutschland mit vier Millionen Arbeitslosen – und hohem Innovationstempo? Oder die Niederlande mit Vollbeschäftigung – und alarmierenden Modernisierungsrückständen?

Das Wirtschaftswachstum lag in den Niederlanden in den letzten zwei bis drei Jahren etwas höher als in Deutschland; langfristig jedoch war die Differenz gering. Der enorme Unterschied im Stellenwachstum kann kaum durch ein Wirtschaftswachstum erklärt werden, das nur um einige Zehntel Prozent vom deutschen abweicht. Der wirkliche Unterschied liegt im Tempo des arbeitssparenden technischen Fortschritts, das in der „starren“ deutschen Wirtschaft erheblich höher liegt. Der größte Teil des deutschen Wachstums wird mit Produktivitätsgewinnen erzielt. Ein Prozent Wirtschaftswachstum hat in Deutschland in den Neunzigerjahren ungefähr 0,2 bis 0,3 Prozent Stellenwachstum gebracht, in den Niederlanden dagegen waren es 0,6 bis 0,7 Prozent.

Das systematisch langsamere Wachstum der Arbeitsproduktivität hat zur Folge, dass in den Niederlanden noch viel Arbeit durch Menschen verrichtet wird, die anderswo Maschinen erledigen. Eigentlich ist das keine „neue Ökonomie“, sondern „dumme Ökonomie“: Wachstum nicht durch Innovation, sondern durch Transpiration. Wie lange können die Niederlande noch Arbeitsplätze schaffen und erhalten, indem sie ihren technischen Fortschritt drosseln? Bei künftigen Sanierungskrisen werden veraltete Fabriken als erste geschlossen – wahrscheinlich stehen sie im Polder.

Allerdings haben wir kurzfristig ein anderes Problem: den Mangel an Arbeitskräften, der durch das arbeitsintensive Wachstum entsteht. Im Einführungskurs Mikroökonomie lernen Studenten, dass Knappheit zu Preiserhöhungen führt. Die Gewerkschaften versuchen dennoch krampfhaft, das erfolgreiche Beschäftigungsmodell zu retten und die Tarifabschlüsse zu mäßigen. Die Unternehmer dagegen bezahlen immer häufiger Löhne, die über dem Tarifniveau liegen – weil sie sonst kein Personal mehr bekommen.

So entsteht eine verkehrte Welt: Die Gewerkschaften beschuldigen die Unternehmer, die Löhne so hoch zu treiben, dass dies die Beschäftigung gefährdet. Beim Unternehmerverband hingegen sorgt man sich, dass die Machtbasis der Gewerkschaften immer schwächer wird, weil die Zahl der Mitglieder abnimmt. In einigen Betrieben entstehen autonome Personalkollektive, die nicht mehr durch die Gewerkschaft kontrolliert werden und den Arbeitsfrieden bedrohen. Gewerkschaftler ärgern sich wiederum maßlos über Topmanager, die sich mit großzügigen Gehältern und Optionen bedienen. So gerät das Poldermodell in Gefahr.

Was sollten die Konsequenzen für das Bündnis für Arbeit sein, das sich heute bei Kanzler Schröder trifft? Die Deutschen sollten lernen, dass ein geringes Innovationstempo mit Niedriglöhnen und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen keine Lösung ist. Wir alle sollten froh sein, wenn die deutschen Gewerkschaften für hohen Lohnkostendruck sorgen und damit das Rationalisierungstempo beschleunigen. Arbeitssparende Innovationen schaffen nämlich ein Luxusproblem: Wir können entweder in derselben Arbeitszeit mehr produzieren oder dieselbe Produktion in weniger Arbeitsstunden erledigen. Rationalisierung zwingt uns zu wählen: mehr Güter oder mehr Freizeit? Allerdings sollte die Freizeit fairer verteilt werden. Es ist grotesk und ungerecht, dass in Deutschland vier Millionen Menschen eine Arbeitszeitverkürzung von null Stunden pro Woche erleben, während der Rest voll durcharbeiten muss, oft noch mit Überstunden.

Das Poldermodellist eigentlich keine„neue Ökonomie“ – sondern eine „dumme Ökonomie“

Mein Rat an die Gewerkschaften: Sorgt für einen ordentlichen Lohnkostendruck! Sonst entstehen niederländische Zustände. Anstatt mehr Lohn sollte man jedoch mehr Freizeit (für alle) fordern. Nutzt den Spielraum für Lohnkostenerhöhungen, um vor allem die kollektive Arbeitszeitverkürzung zu finanzieren. Warum nicht die 32- oder 30-Stunden-Woche für alle fordern – oder wenigstens für die Branchen mit hoher Arbeitslosigkeit? Wenn der jährliche Produktivitätsgewinn nicht mehr für Lohnerhöhungen, sondern für die Arbeitszeitverkürzung (für alle) genutzt würde: Das wäre echte Solidarität mit den Arbeitslosen!

Ein Tipp an das Kabinett Schröder: In den Niederlanden wurde viel Arbeit auch durch Teilzeit umverteilt. Die Voraussetzung war allerdings, dass man Teilzeitarbeit nicht diskriminiert. Die niederländischen Teilzeitkräfte haben dieselben Rechte wie die Vollzeitkräfte – also Pensionsansprüche oder Kündigungsschutz. Ergebnis: Teilzeitarbeit ist maßlos populär. Hier kann Europa doch noch lernen von den Niederländern.

ALFRED KLEINKNECHT