Blicke auf verborgene Sphären

■ „Cinepolis“: Ein Abend mit Kurzfilmen unter dem Motto Der Bauch der Stadt

Ende der 20er Jahre wurden die Großstadtsymphonien zu einem festen Bestandteil des Avantgardefilms. So lösten Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera von 1929 und Walter Ruttmanns Berlin – Die Symphonie der Großstadt aus dem Jahre 1927 bei Kritikern und Publikum Begeisterung und Staunen aber auch Ratlosigkeit und Entsetzen aus. Das visuelle Inventar der Großstadt, ob es sich dabei um Straßenbahnen, Züge, Ampelanlagen, Autos, Maschinen oder einfach nur um hetzende Passanten handelte, wurde von diesen beiden Regisseuren rhythmisch montiert und zu einem rauschhaften, im Takt des neuen Lebens schlagenden Filmerlebnis verdichtet.

Eine Veranstaltung unter dem Motto „Der Bauch der Stadt“ nun bisher kaum bekannte Nebenwerk aus dem Filmgenre der Stadtsymphonien vor. Die kurzen Dokumentarfilme, die hier gezeigt werden, porträtieren Menschen und Orte, die eher zu der verborgenen, zu leicht verdrängten Sphäre der Stadt gehören. Gleich drei Arbeiten widmen sich Paris. Besonders gespannt darf man auf Boris Kaufmans Les Halles Centrales sein, wenngleich es sich dabei um ein Fragment handelt. Die Tatsache, dass hier ein Dokumentarfilmer aus dem Dunstkreis der Pariser Surrealisten einen Film über diesen markanten, mitten im Stadtzentrum gelegenen Komplex gedreht hat, in dem einmal Markthallen, Schlachthöfe und sogar ein Bahnhof Platz fanden, ist vielleicht schon interessant. Umso bemerkenswerter ist allerdings, dass Boris Kaufman der kleinere Bruder von eben jenem Denis Kaufman war, der unter dem bereits erwähnten Künstlernamen Dziga Vertov Filmgeschichte schrieb.

Aber auch der Exil-Russe Boris Kaufman blieb kein Unbekannter: Gleichzeitig zu Les Halles Centrales arbeitete er zusammen mit Jean Vigo an A propos de Nice, einem Film, der zum Klassiker des politisch engagierten Avantgardefilms avancierte. Und nach seiner Emigration in die USA sollte Kaufmann als Kameramann für Die Faust im Nacken gar einen Oskar verliehen bekommen.

Fünf Jahre später widmete sich Paul Schuitema ebenfalls den Pariser Markthallen. Der Holländer, der zeitweise mit dem berühmten Joris Ivens zusammengearbeitet hatte, dokumentierte auch das Nachtleben, das sich in den umliegenden Bars abspielte, wo zahlreiche Prostituierte auf spendable, zahlungskräftige Metzger und Marktarbeiter warteten.

Die Versuche, die im Verborgenen stattfindenden Vorgänge in Großmärkten und Schlachthallen ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, beschränkten sich nicht nur auf Paris: 1931 drehte Francesco Di Coco einen Kurzfilm über das Schlachthaus von Rom. Mit dem Titel Il ventre della città griff er die Metapher vom Bauch der Stadt auf, die bereits 1874 Emile Zola mit seinem Roman Le ventre de Paris geprägt hatte. Ihren Mythos als proletarischer Mikrokosmos verdankten die Hallen wohl zu einem großen Teil diesem Klassiker der naturalis-tischen Literatur.

Weiter findet sich in dem filmhis-torischen Programm ein Kurzfilm des relativ unbekannt gebliebenen Regisseurs Wilfried Basse. Dieser war erst 1927 nach Berlin gezogen, in seinem Erstlingswerk Baumblütenzeit in Werder widmete er sich zwei Jahre später allerdings nicht der pulsierenden Metropole, sondern dem ausgelassenen Treiben der Berliner Ausflügler, die sich in der Havelstadt Werder amüsierten. Die modernen Großstadtbürger, die wochentags zackig und im allgemeinen Fluss der Passanten zur Arbeit schritten und so von Walter Ruttmann in dessen „Berlin-Symphonie“ verewigt wurden, strecken hier alle Viere von sich und genießen den Alkoholrausch.

Lasse Ole Hempel

Do, 21.15 Uhr, Metropolis