Expedition ins Reich

Fünf rechte Jugendliche werden im früheren KZ mit den Taten ihrer Vorbilder konfrontiert

aus Buchenwald UTA ANDRESEN

Endlich mal weiß er mehr als die anderen. Endlich. Sonst kann er schon „vor Freude hüpfen“, wenn er eine Vier mit nach Hause bringt. Kai* (16) kann kaum noch an sich halten. Hatte doch der Leiter da vorn gerade vom Anschlag auf die Erfurter Synagoge gesprochen. Von dem Typen, der damals dabei war. Den sie in einen anderen Knast verlegen mussten, weil er sich mit einem Juden angefreundet hatte, dieser Verräter. „Den kenn ich, den Andreas, das ist ein Freund von meinem Bruder“, kräht er. Triumphierend guckt er in die Runde. Volltreffer. Eins, setzen. Oder?

Es ist fast wie bei einem Schulausflug. Nur, dass Kai sein Wissen nicht irgendwo im Grünen preisgibt, sondern im Zellentrakt des Konzentrationslagers Buchenwald. Kurz hinter dem schmiedeeisernen „Jedem das Seine“. Ein Schulausflug, bei dem ein merkwürdiges Missverhältnis zwischen Schülern und Pädagogen herrscht. Fünf Jungs, sieben Betreuer. Und ein Ausflug, auf dem die Schüler hier nur eines lernen sollen: nie wieder stolz, ein Deutscher zu sein.

Irgendwann kam einer mit Bomber in die Klasse. Wir haben Böhse Onkelz gehört. Mir hat gefallen, dass wir irgendwo hingefahren sind, gesoffen haben. Für mich war es wichtig, dass alle aus meiner Stadt sehen, dass ich rechts bin, dass sie Respekt haben. Die Kosovo-Albaner, die Russen in der Baracke – damals sollten die Angst vor mir haben. Die Stadt gehört uns. (Kai)

Auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Eine Gruppe rechtsradikaler Straftäter durch eine deutsche KZ-Gedenkstätte zu führen, gewissermaßen an die Wirkungsstätte ihrer Vorbilder. Das hat sich noch niemand getraut. Jugendliche, die zu Hause vor dem Spiegel den Hitlergruß üben, sich ein Gau-Dreieck auf die Jacke nähen, Schiedsrichter als „Judensau“ betiteln und hin und wieder Ausländer ins Krankenhaus treten.

„Ich habe nie verstanden, warum sich Gewalttäter so gut wie nie mit ihrer Tat auseinander setzen müssen“, sagt Sebastian Jende (32). „Akzeptierende Jugendarbeit ist gescheitert.“ Von dieser Erkenntnis bis zur Idee mit Buchenwald dauerte es fast zehn Jahre. Zehn Jahre, die der Sozialpädagoge aus Jena mit der Resozialisierung von Gewalttätern zubrachte. Und das heißt in einem Land wie Thüringen zu 80 Prozent Begegnungen mit Neonazis.

Sebastian Jende. Wanderstiefel, Jeans, Sweatshirt, kurze strubbelige Haare. Einer, der aussieht, als wäre er gerade auf dem Weg zu einer Expedition. Und darum handelt es sich ja auch. Eine Expedition in unwegsames Gelände. Und das mit abenteuerlicher Besetzung, einer Mannschaft, der man nicht trauen kann und von der man nicht weiß, ob man sie wieder zurück in die Zivilisation bringt.

Dafür wirkt Sebastian Jende doch sehr cool. Woher nimmt er diese Gelassenheit? „Man weiß, nach einer Woche ist der Spuk vorbei.“ Dass das natürlich nur eine Verarbeitungsstrategie ist, weiß der Sozialpädagoge. Er grinst. Wer harte Jungs knacken will, darf sich nicht in die Karten schauen lassen. Autorität sein ist hier alles.

Ein scharfer Blick von Sebastian Jende und die Jungs parieren. Etwa, wenn Kai von „Zecken“ spricht, oder Maurice* (15) die Musik der rechtsradikalen „Landser“ „geil“ findet.

Grau verkohlte Backsteine

Viel mehr Abstand ist nicht drin. Vorn die Öfen, Marke Hoff & Söhne Erfurt. Hinten, an der weiß gekalkten Wand, lehnt Michael* (16). Die anderen gehen im Krematorium herum, beugen sich über den Aufzugschacht, in dem die Leichen aus dem Keller hochgebracht wurden, schielen hinter die Ofentür, auf die grau verkohlten Backsteine der Verbrennungsanlage. Was Michael wohl denkt? Spaßig scheint es nicht zu sein. Die Augen schmal, das Kinn in den FC-Jena-Schal vergraben, die Hände verschränkt. Rechnet er womöglich nach, ob hier tatsächlich 56.000 Menschen in fast acht Jahren zu Asche werden konnten? Oder denkt er an das Asylbewerberheim, auf das er und seine Freunde im Herbst vor zwei Jahren Steine, Knüppel, alles, was sie finden konnten, warfen?

Ich war immer der Jüngste bei uns. Acht Mann waren wir in unserer Kameradschaft – Schwarze Garde. Es war dunkel, ich konnte nicht sehen, wer da wen trifft. Ich dachte, es gehört zur Gerechtigkeit, mitzuprügeln. (Michael)

Der Anschlag, bei dem Flamurs Mutter so schwer im Gesicht verletzt wurde, dass sie ins Krankenhaus musste. Und nun steht dieser Flamur, der Kosovo-Albaner, auch noch neben ihm. Sebastian Jende hatte den 18-Jährigen gebeten, Michael während des Programms zu begleiten. Als Mahnwache, gewissermaßen. Michael schüttelt sich, geht raus. Puh, frische Luft.

Spuk, hatte Sebastian Jende gesagt. Es hat etwas davon, so wie die fünf Gewalttäter hinter Daniel Gaede (45), dem pädagogischen Leiter der Gedenkstätte, hertraben. Folgsam, fast devot, schwenkt der Trupp vom Krematorium zum nachgebauten Pferdestall, in dem 8.000 sowjetische Soldaten per Genickschuss getötet wurden, dann zu dem Fleck, auf dem einst in einem Pferch 250 polnische Gefangene den SS-Männern demonstrieren durften, wie lange ein Mensch ohne Wasser, Nahrung und Kleidung aushält. Nicht sehr lange. Brav und konzentriert stehen die fünf nun in der Ausstellung, vor den Knöpfen und Zahnbrücken der Toten, den Briefen der Häftlinge und den Bildern der Befreiung des KZ. Das Programm ist schließlich Auflage vom Gericht, und Daniel Gaede der Führer hier.

Einem Führer zu gehorchen, das sind die Jungs gewohnt. So wie sie Daniel Gaede hinterhertrotten, so folgten Kai, Michael, Maurice, Jannik* und Ronny* wohl ihren rechten Helden über die Dörfer um Jena, machten Dorffeste unsicher, stelzten über Marktplätze.

Maurice staunt. Mann, sind die sauer auf ihn. Dabei wollte er nur einen Witz machen. „In dieses Judenklo muss ich mal reinpissen“, hat er gesagt. Und nun kommen die anderen ihm blöd. Jannik: „Du nimmst das hier nicht ernst.“ Kai: „Das ist deine Chance, Pech, wenn du sie nicht nutzt.“ Michael: „Lass mich in Ruhe mit deinem Scheiß.“ Maurice sagt nichts, aber er verkriecht sich in seiner Jacke, zum Glück ist der Kragen hoch. Spätestens als Daniel Gaede von den letzten Tagen des Lagers erzählt, vergeht Maurice das Witzeln. Im März 1945 waren noch etwa 50.000 Häftlinge im Lager, die SS hatte sich bereits vor den Alliierten verdrückt. „Da sind noch Hitlerjungs in den Wald gelaufen, um Zebras schießen zu gehen“, sagt Daniel Gaede. Zebras. So nannte man damals die Häftlinge. Wegen der schwarzweiß gestreiften Kleidung. Ob diese Jungs wohl auch in den Wald jagen gegangen wären? Ungerecht, das zu denken? Vielleicht.

„Wer, wenn nicht sie, soll eine Chance bekommen“, sagt Sozialarbeiter Sebastian Jende. Einer wie Kai, der von seinem Vater misshandelt wurde und die Hauptschule in der sechsten Klasse abgebrochen hat. Einer wie Jannik, der Förderschüler mit der alkoholkranken Mutter und dem rechtsextremen Bruder, der wegen Körperverletzungen und Propagandadelikten im Gefängnis saß. Einer wie Maurice, der durch rechte Sprüche aufgefallen ist, aber bislang noch niemanden ernsthaft verletzt hat. Einer wie Michael, dessen Mutter gestorben ist, als er 13 war. Ein Heimkind wie der 16-jährige Ronny. Ihnen sagt Sabastian Jende nicht, dass sie eine Chance verdient haben. Er sagt, dass sie das sind, was ihre Vorbilder „Asoziale“ genannt und ins KZ gesteckt haben. Hart? Jende zuckt mit den Schultern. Gehört nun mal zum Programm. Zu Menschen, die viel prügeln und wenig denken, dringt man anders vielleicht nicht durch.

Ich kann die Ausländer einfach nicht leiden, aber wenn ich dem Flamur hier sage, dass er ein Arschloch ist, und der sieht mich mal allein … aber eigentlich sieht der ganz nett aus. (Maurice)

Am Ende des Tages hockt Maurice konzentriert vor einem Videogerät und sieht sich den Bericht eines Überlebenden an, während hinter ihm zwei Schüler die Streckbank des Museums ausprobieren. Michael schüttelt den Kopf, als er im Gästebuch der Gedenkstätte „Wir hatten viel Spaß hier, danke Hitler!“ liest. Zwei Skinheads laufen vorbei: die Jeans gekrempelt, unter der Bomberjacke ein Sweatshirt mit dem Aufdruck „LONSDALE“ – in der Neonazi-Szene deshalb so beliebt, weil, unter der offenen Jacke getragen, nur noch „NSDA“ von dem Schriftzug zu sehen ist. Ronny attestiert den beiden: „Dumm geboren, kahl geschoren.“ Das Klassenziel scheint erreicht.

Das eintätowierte „SKIN“

Selbst bei Kai. Viermal war er schon hier oben. In voller Uniform. Bomber, Springer, das eintätowierte „SKIN“ mit der SS-Rune auf seinen Fingerknöcheln leuchtete. Jetzt hält er die rechte Hand darüber. Er putzte zu Hause seine Gaspistolen, hängte sich ein Nazibanner über das Bett. So weit wie sein Bruder – mit der Reichskriegsflagge auf Besuch in Auschwitz – hat er es zwar noch nicht gebracht, aber immerhin bis zu Wehrsport und der Neonazi-Kameradschaft „Blood and Honour“, und das ist schließlich verboten.

Nun hat er seine Waffen, die Springerstiefel, die Kassetten mit dem Hakenkreuz auf dem Cover und das T-Shirt mit dem Aufdruck „Ewig lebe der Soldaten Ehre“ – wie die anderen auch – abgegeben und sitzt hier, mit diesem Jan zusammen, der die Gruppe auch begleitet. Jan Hartmann (29) ist so etwas wie das konzentrierte Feindbild dieser Jungs: Vater Afrikaner, Mutter Deutsche, und dann auch noch Polizist, Handlanger dieses „scheiß Staates, der so viele Ausländer reinholt, und nichts für die eigenen Leute tut“.

Wenn ich einen Farbigen gesehen habe, dann hab ich gedacht, der soll sich verpissen, wir sind hier in Deutschland, sieht der hässlich aus, wie ein Affe. (Kai)

Kai und Jan bemühen sich, die Zensurbestimmungen des Lagers zu entziffern. Altdeutsche Schrift. Keine leichte Sache. Kai fängt an mit: „Jeder Häftling darf im Monat zwei Briefe oder zwei Postkarten empfangen und auch absenden …“ Uff. Für jemanden, der „Ausländer nehmen Arbeitsplätze weck“, weg mit ck, schreibt, nicht schlecht. Jan, der Polizist, liest weiter „ … die eingegebenen Briefe dürfen nicht mehr als zwei Seiten à 16 Zeilen enthalten und müssen gut lesbar sein.“ Geschafft. Kai knufft Jan in die Seite, lacht. Doch ganz okay, dieser Bulle. Und überhaupt, auf einer Expedition muss man zusammenhalten.

Danach, wenn man vom unbekannten Terrain zurück ist, dann beginnt wieder das normale Leben. Das mit dem rechten Vater oder Bruder. So gesehen, ist die Expedition eher ein Spaziergang.

Einige Wochen nach dem Besuch in Buchenwald. Sebastian Jende berichtet, Michael engagiere sich nun selbst im Resozialisierungsprogramm. Kai und Jannik haben den Kontakt abgebrochen.

* Name geändert