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: Ende der Kindheit

„Kindertransport: In eine fremde Welt“ (23.00 Uhr, ARD)

„Wenn man dir das Leben gerettet hat und du in ein sauberes Heim kommst, in dem es zu Essen gibt, müsstest du eigentlich glücklich sein“, sagt Robert Sugar. War er aber nicht; Robert war eines von 10.000 deutschen, österreichischen und tschechischen Kindern, die 1939 nach England flohen.

Alarmiert durch die Pogromnacht im November 1938 hatten britische Organisationen ihre Regierung bedrängt, Hilfe zu leisten. Während das gleiche Begehren in den USA vom Kongress abgelehnt wurde, erklärten sich die Briten bereit, vor allem jüdische Kinder bis zum Alter von 17 Jahren aufzunehmen – wenn sie weder Arbeitsmarkt noch öffentliche Kassen belasten.

Außerdem musste eine aufnahmebereite Familie gefunden werden und jemand, der für 50 Pfund (damals ca. 1.500 Euro) bürgte, damit die Flüchtlinge später wieder ausreisen konnten. So wurden wöchentlich rund 300 Kinder vor den Nazis gerettet. Ohne Eltern, ohne Wertsachen, allein mit 10 Reichsmark in der Tasche fuhren sie – mit Billigung der deutschen Machthaber – in eine ungewisse Zukunft. In der Regel versprachen die Eltern nachzukommen, doch die meisten von ihnen wurden kurz darauf in Konzentrationslager deportiert.

Rund 60 Jahre später hat Mark Jonathan Harris einige dieser Flüchtlingskinder nach ihren Erinnerungen befragt. Aus ihren Aussagen rekonstruierte er die Ereignisse jener schicksalhaften Monate, in denen für Tausende schlagartig die Kindheit endete und Familien für immer auseinander gerissen wurden. Harrisschildert die große Hilfsbereitschaft der britischen Bevölkerung. Aber er verschweigt auch nicht, dass viele Kinder als Dienstpersonal missbraucht wurden, und beleuchtet kritisch das politische und wirtschaftliche Diktat der Aktion. Der Oscar für den besten Dokumentarfilm, den Harris für dieses Werk im letzten Jahr erhielt, ist verdient. Verzichtet der Filmemacher doch auf spekulative Rührseligkeit und selbstgerechte Schuldzuweisungen. Dennoch lässt Harris den Zuschauer jenen seelischen Schmerz fühlen, den ein Flüchtling ein Leben lang mit sich tragen muss – damals genauso wie heute.JAN-RÜDIGER. VOGLER