Konsequenter Fenstersturz

Suizidgeschichten, Goethe, Flucht und Lieder: Der Literarische Wintersalon lädt zum Lesemarathon in Jurten ein

Es riecht nach Moschus, die Luft schwallt lauwarm, und überall ist Filz: So muss sich der Flieger Joseph Beuys gefühlt haben, als er nach seinem kriegsbedingten Absturz in der Behausung von Steppennomaden aufgewacht ist. Doch wir sind nicht an einem östlichen „Frontabschnitt“, sondern am Potsdamer Platz. Hierbrummt der Verkehr. Und die „Werbegemeinschaft Sony Center“ hat mit Britta Gansebohm zum „Wintersalon“ eingeladen, einem Lesemarathon, der in drei „Jurten“ stattfindet. Die zirkuszeltartigen Hütten mongolischer Bauart stehen mitten im Innenhof des ja auch irgendwie jurtenartigen Sony-Centers.

Gerade blickt in Jurte Nr. 1 Autor Jörg Aufenanger über den Rand seiner Lesebrille in die lauschige Tiefe des Steppenzeltes. Auf Filzwürfeln sitzt eine Hand voll gespannter Zuhörer. Im Verlauf der Lesung aus „Hier war Goethe nicht“ erfährt das Publikum, wegen welcher Frauen Goethe nicht in Baden-Baden war, warum er nicht in Rom gestorben und begraben ist.

Zwischen den dreißigminütigen Lesungen ist genug Zeit, um die „Infojurte“ oder die extra eingerichtete Leselounge im nahen „Lindenbräu“ aufzusuchen. Nachmittags kommen im „Wintersalon“ auch Kinder auf ihre Kosten: So erfreut etwa Robert Metcalf das ganz junge Publikum mit „lauter leisen Liedern für Kinder“. Mit Thomas Brussig, Alexa Hennig von Lange oder Michael Wildenhain treten in den innen mit bunten Hölzern und blauem Tuch ausgekleideten Filzungetümen aber auch speziell den älteren Jugendlichen bekannte Autoren auf. Doch jetzt ist erstmal Nicolaus Sombart an der Reihe, der aus seinem autobiografischen Text „Rendezvous mit dem Weltgeist“ liest. Der Sohn des Soziologen Werner Sombart berichtet über seine spektakuläre Flucht aus dem Kessel von Kurland im Mai 1945. Kaum ist die halbe Stunde vorbei und Sombarts Fluchtgeschichte glücklich in einer Heidelberger Studentenbude geendet, schaut der alte Herr lächelnd in die Runde: „Wenn ich es richtig sehe, haben wir das Pensum für diese Sitzung beendet!“

Bei der nächsten Jurten-Sitzung ist es richtig voll. Der Essayist Michael Rutschky tritt mit „Tod auf Capri“ gegen Cornelia Staudachers „Spaziergänge durch das literarische Mallorca“ an. Rutschky hat verschiedene Arten biografischen Erfolgs und Misserfolgs in Fallstudien nebeneinander gestellt, die er „Lebensromane“ nennt. Da ist die tragische Geschichte eines erfolglosen rumäniendeutschen Autors, der eigentlich ganz zufrieden ist mit dem „Plansoll der Einsamkeit“, das ihn umgibt. Doch dann kommt er nach Deutschland, wird erfolgreich, und schon ist es aus mit der Einsamkeit: Da stürzt er sich konsequenterweise aus dem Fenster.

Die zweite Fallstudie handelt vom Selbstmord einer desillusionierten jungen Frau auf Capri im Jahr 1941. Kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag nimmt sich die ambitionierte, aber unzufriedene Sekretärin das Leben. Rutschkys Diagnose: zu viele Romane gelesen. Die „Pointe“ der Geschichte verrät der Autor eher beiläufig: Der Fall ist authentisch, die Frau war seine Tante.

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