Ausdrücklich nicht nur für Akademiker

Lesbisch, schwul oder bi oder was: Ein Sammelband dokumentiert die Hamburger Vorlesungsreihe zu Geschlechtergrenzen und unangepassten Formen des Liebens – Eine Rezension  ■ Von Sabine Rohlf

Allenfalls ein Nischendasein führt an bundesdeutschen Universitiäten die Auseinandersetzung mit Fragen der Homo-, Bi- oder Transsexualität. Meist verdankt es sich dem Engagement des wissenschaftlichen Nachwuchses, wenn das Wörtchen „Queer“ in Vorlesungsverzeichnissen, auf Tagungsprogrammen oder Buchdeckeln erscheint.

So ist es auch im Falle des von Ulf Heidel, Stefan Micheler und Elisabeth Tuider herausgegebenen Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und Körper in Perspektiven von Queer Studies. Der Sammelband dokumentiert eine von der AG LesBiSchwule Studien/Queer Studies an der Universität Hamburg organisierte Vorlesungsreihe, die sich seit 1994 unangepassten Formen des Lebens und Liebens widmet. Die Veröffentlichung richtet sich ausdrücklich nicht allein an ein akademisches Publikum. Mit 21 Aufsätzen bietet sie eine Auswahl der bisher gehaltenen Vorlesungen über Sexualitäten, Identitäten und Körper.

Das Themenspektrum reicht quer durch die Jahrhunderte und Disziplinen: Von Andreas Niederhäusers Beitrag, der – unter der Überschrift „... nemlich das yedtwederer dem anndern sin mennlich glid jn die hand genomen ...“ – Einblicke in spätmittelalterliche Gerichtsakten eröffnet, bis zu den Versprechen der Reproduktionsmedizin. Letztere ist, wie die Biologin Bettina Bock von Wülfingen zeigt, gerade dabei, homosexuelle Paare als Klientel für Reagenzglasbefruchtung und Gen-Check zu entdecken.

Die im Band versammelten Geistes-, Gesellschafts-, und NaturwissenschaftlerInnen kommen bei ihrer Auseinandersetzung mit Geschlechtspraktiken und Begehrensformen zu vielschichtigen und zuweilen unerwarteten Ergebnissen. So interpretiert Jonathan D. Katz, Kunsthistoriker an der New Yorker State University, das Schweigen bei John Cage und die leeren Leinwände von Robert Rauschenberg als Politiken der „Passivität“. Diese widersetze sich subtiler und womöglich effektiver als direkte Formen des Protests der rigiden Moral der 50er Jahre.

Die Historikerin Claudia Bruns analysiert die Schriften der „Maskulinisten“, die um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert die kulturelle Überlegenheit homosexueller Männer behaupteten und dabei sexistische und antisemitische Konzepte aufgriffen. Eine simple Opfer-Täter-Optik wird hier nachhaltig verwirrt, indem die problematischen schwulen Vorväter gewissenhaft in ihren historischen Kontext einbettet werden.

Traditionelle Formen des Geschlechterwechsels der Ureinwohner Nordamerikas stellt Lüder Tietz vor. Er lotet die Situation indigener „Two Spirits“ aus, die sich zwischen traditionellen Vier-geschlechter-Modellen und den Identitätsangeboten urbaner Homo-Szenen bewegen. Dabei wendet er sich gegen die kolonialen Projekti-onen der Ethnologie ebenso, wie gegen subkulturelle Formen der rassistischen Verklärung des „Anderen“.

Bei allen Unterschieden der Sujets ist den Aufsätzen eine große Umsicht gemeinsam, wenn es um Wahrheitsbehauptungen geht. Nicht in den Dienst neuer – diesmal „queerer“ – Identitäten und Wir-Gefühle stellen sie sich. Gefragt wird vielmehr nach Möglichkeiten, heterosexistische, aber auch andere, etwa ras-sistische Regimes, ohne neue Festschreibungen zu unterlaufen. Kommentiert wird dies mit dem Aufsatz „Von der schwulen Ahnengalerie' zur queer Theory“, in dem Stefan Micheler und Jakob Michelsen eine Entwicklung zur radikalen Verabschiedung essentieller Größen nachzeichnen.

Fast alle Beiträge widmen Judith Butler einige Zeilen. Zwar ist es durchaus lesenswert, wie es immer wieder gelingt, ihre Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht in wenigen Sätzen zusammenzufassen, doch hier hätte wohl ein Kürzungspotenzial gelegen. Zudem geben Einleitung des Bandes sowie der Aufsatz „Szenarien zur Textur des Körpers“ von Maren Möhring, Petra Sabisch und Doro Wiese bündige Darstellungen einschlägiger Denkbewegungen. In Gesellschaft dieses Textes hätten einige andere ohne den obligatorischen Butler-Absatz auskommen können. Mehr Raum wäre dann für die je fachspezifischen thematischen Zugänge gewesen. Doch auch so können die Aufsätze demonstrieren, wie die dekonstruierende Arbeit an den Geschlechtergrenzen in ganz unterschiedlichen Disziplinen Ergebnisse zeitigen, die auch außerhalb der Universitäten von Interesse sein dürften.

Die Ringvorlesung läuft in diesem Semester noch bis zum 30. Januar, mittwochs 19-21 Uhr, Philturm, Von-Melle-Park 6, Hörsaal G

Ulf Heidel, Stefan Micheler, Elisabeth Tuider (Hg.), Jenseits der Geschlechtergrenzen, Männerschwarmskript Verlag, Hamburg 2001, 432 S., 19 Euro