Eine Stadt wird künstlich ernährt

Nur 40 Kilometer vor den Ruinen von Kuito tobt der Krieg. Täglich kommen Flüchtlinge an. Da wird die internationale Hilfe zur Dauereinrichtung

aus Kuito MARTINA SCHWIKOWSKI

Tränen rinnen die dunklen Wangen hinunter. Wie endlose Bäche rollen sie durch die staubigen Gesichter der jammernden Mütter. Eine Frau trägt einen Säugling an der nackten Brust. In zerlumpter Kleidung stehen die vier Familien in den schwarzen Türlöchern der Ruine in Kunje, der notdürftig eingerichteten Anmeldestelle für Vertriebene aus den Kampfgebieten nahe der angolanischen Provinzhauptstadt Kuito.

Jeremias Samalungo ist unbeeindruckt. „Die Tränen sind nicht echt“, sagt der 37-jährige Angolaner, der für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) arbeitet. Die Mütter inszenieren nach seinen Worten ihre Ankunft nur, um bei der Anmeldung eine weitere Lebensmittelration zu kassieren. Doch die Mitarbeiter des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen lassen sich nicht erweichen. „Ihre Anmeldung ist registriert“, erklärt Jeremias Samalungo.

Die vorgespielte zweite Ankunft der Frauen in Kunje zeigt das Elend. 200 Menschen treffen täglich in Kunje ein, geflohen aus den umkämpften Dörfern in Angolas Kriegsprovinz Biée. Vor allem im Osten der Provinz kämpfen die Truppen von Präsident Eduardo Dos Santos gegen Jonas Savimbis Unita-Kämpfer. Viele der Betroffenen des Kriegs haben einen Hungermarsch hinter sich, wenn sie in Kunje angkommen. Sie hocken wartend am Anmeldetisch der Hilfsorganisation.

Mutter und Kind auf der Flucht

Christina Cassova blickt verzweifelt. Sie kann kaum sprechen und drückt Joaquina, ihr zweijähriges Kind, an sich. Die junge Frau war im Busch, Feuerholz holen, als Soldaten ihr Dorf plünderten und Nahrungsmittel raubten. „Wer nicht gehorcht, wird erschossen“, sagt die 25-Jährige tonlos. Auf ihrer Flucht aus dem 200 Kilometer entfernten Salombinja hat sie ihre Gruppe mit dem Häuptling, dem „Soba“, verloren. Weil die Häuptlinge bei der Anmeldung normalerweise die Identität bezeugen, hat Christina Cassova Schwierigkeiten.

Auf den saftiggrünen Hügeln des Flüchtlingslagers Bela Horizonte – nur einige Fahrtminuten von Kunje entfernt – stehen hellbraune Grashütten. Sie scheinen auf dem Land zu kleben. Soweit das Auge reicht. Dazwischen sprießen Sonnenblumen. Leben hat sich entfaltet. Tausende haben hier eine Bleibe gefunden und nach der Anmeldeprozedur ihre Behausung errichtet. Auf einer winzigen Parzelle bindet Antonio Marques Äste zu einen Gerüst für sein neues Heim zusammen. Seine Frau und die vier Kinder werden bald ein Dach über dem Kopf haben. Sein Nachbar hackt Brennmaterial und auf einem vom Regen durchweichten Pfad balancieren Frauenköpfe bunte Plastikschüsseln mit Wurzeln und Trockenfisch.

Hinter einer aufgespannten Leine warten Hunderte am Eingang des Lagers auf die Verteilung ihrer Lebensmittelration. Der Lastwagen des WFP mit neuen Säcken bringt wieder Hoffnung, den leeren Magen am Abend füllen zu können. Die zwölf Kilo Mais plus Öl, Zucker und Salz pro Person im Monat bringen die Menschen über die Runden. Mehr nicht. Viele sind durch Unterernährung geschwächt, im September brach eine Masernepidemie aus, manche sterben an Tuberkulose. Die kleinen Holzkreuze auf den Grashügeln am Rand von Bela Horizonte erzählen davon.

Trümmerhäuser reihen sich aneinander in der Provinzhauptstadt Kuito. Vereinzelt sind ganze Etagen zusammengestürzt. Wo die Nischen noch halten, liegen Matratzen – die Menschen haben ihr Quartier eingerichtet. Jede Mauer trägt das Muster der Einschusslöcher. 1993 lieferten sich die Kriegsparteien neun Monate Gefechte in der Stadt – die Haupstraße war die Front. Die Armee der MPLA-Regierung unter Präsident Dos Santos hat die Unita-Rebellen in die Flucht geschlagen. Jetzt findet der Krieg zwischen Savimbis Kämpfern und den Regierungssoldaten 70 Kilometer östlich und 40 Kilometer nördlich von Kuito in dichter Buschgegend statt.

Präsident Dos Santos war einst einer der Führer der marxistischen Befreiungsbewegung. Heute ist er reich, denn die Einkünfte aus Öl- und Diamantenförderung kommen insbesondere der Präsidentenfamilie und korrupten Politikern zugute. Die Menschen, die bei Kuito hungern und sterben sind ihm egal. In der Provinzhaupstadt haben 300.000 Menschen mit ein wenig Glück einmal in der Woche Strom, aber kein fließendes Wasser. Das Krankenhaus gleicht einem Feldlazarett. Es gibt keinen angolanischen Arzt und eine Menge Arbeit. „Keine Woche vergeht ohne Minenopfer“, sagt der Belgier Danny De Cuyper, Koordinator für „Ärzte ohne Grenzen“ in Kuito. Dos Santos vernachlässige diese Provinz besonders, sagt De Cuyper. Denn bei den einzigen Wahlen von 1992 verlor die Partei nur in zwei Provinzen – Biée, Heimatprovinz von Dos Santos Gegenspieler Savimbi, war eine davon.

Ein apathischer Gesichtsausdruck

Nahe der dachlosen Kirche mit der zerschossenen Turmspitze arbeitet „Ärzte ohne Grenzen“ unter aufgeschlagenen Zeltplanen. Diese Hilfsstation für unterernährte Kinder ist überfüllt. Sie haben einen apathischen Gesichtsausdruck. Marcelina kann auf ihren schwachen Beinchen kaum stehen, ihre Füße sind angeschwollen. Die Mutter greift ihrem mageren Kind unter die Arme, damit die Fünfjährige gewogen wird. Sie schreit. Mit einer Aufbaunahrung soll sie zu Kräften kommen. Zehn Prozent der Kinder überleben nicht.

In frischem Blau-Weiß strahlt das Haus des Welternährungsprogramms, die blaue Fahne der Vereinten Nationen hochgeflaggt. Die internationale Gemeinschaft hat in alten Gebäuden Büros eingerichtet, Hilfsaktionen werden hier koordiniert. Das Überleben hängt ausschließlich von ausländischen Organisationen ab. 110.000 Vertriebene um Kuito werden durch die Vereinten Nationen ernährt. Die Zahlen steigen. Besonders nach einem Vorstoß der Regierungstruppen im Osten strömten 32.000 Menschen im vergangenen April in das neue Lager Camacupa bei Kuito. Auch das Land wird knapp. Die Menschen sollen umgesiedelt werden, doch das Gebiet ist vermint. Der Gouverneur hat noch keine Räumung veranlasst. „Aber die Menschen wollen nicht mehr umgesiedelt werden. Sie sind ständig auf der Flucht“, sagt Francois Djissou aus Burkina Faso. Er ist stellvertretender Leiter des Welternährungsprogramms.

Die Organisationen beklagten alle ein Dilemma: „Der Staat kümmert sich trotz Versprechungen um nichts und die wenigen Gelder versacken beim Gouverneur in Kuito“, erzählt Maureen Billiet, Programmleiterin der Organisation Oxfam, die Projekte zur Wasserversorgung betreibt. Die Belgierin wirkt frustiert. „Wir haben eine Nothilfesituation seit Jahren, und es ist nur die Spitze des Eisbergs.“ Niemand weiß, wieviele Menschen trotz der Kämpfe im Busch zurückbleiben.

Die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen wissen, dass sie zum Status Quo der Kriegssituation beitragen: Durch jahrelange Unterstützung statt kurzfristiger Nothilfe geben sie der Regierung Raum, sich weiter zu bereichern und Geld in den Krieg statt in die Ernährung der Bevölkerung und den Wiederaufbau zu stecken. „Ich bin zynisch geworden nach vier Jahren in Kuito“, sagt Billiet, „denn der Staat wird auch ohne uns sein Volk verhungern lassen.“

Im WFP-Büro hat sich „Hercules“ per Funk angekündigt. Das bauchige Transportflugzeug bringt monatlich 3000 Tonnen Nahrung nach Kuito. Einzige Verbindung ist die Luftbrücke, die Zufahrtstraßen sind wegen der Minen und militärischer Überfälle zu unsicher. Walkie-Talkies sind im Einsatz, Lastwagen warten auf Abholung der weißen Säcke aus Amerika und Europa für die Verteilung an die Hungernden in einem reichen Land, das mit eigenen Ressourcen sein Volk sofort ernähren könnte. Aber die Hilfsmaschinerie läuft. Die Organisationen kümmern sich um die Versorgung, der Präsident und sein Gegenspieler Savimbi um den Krieg.

Gegenüber dem WFP-Büro, in dem Hilfsgüter ankommen, stoppt ein Militärfahrzeug. Soldaten springen heraus und holen junge, barfüßige Männer von der Ladefläche. Sie verschwinden in einer Armeeverwaltungsstelle und später in einem Trainingslager. Rekruten für einen Krieg, der bereits 26 Jahre die Menschen um ihr Leben betrügt und ihre Träume von einer friedlichen Zukunft vernichtet.